Herbert Neidhöfer, homme de lettres
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Sonntag, 31. Juli 2016
Donnerstag, der 31. Juli 2014
[303 / 21]
Am Donnerstag, dem 31. Juli 2014, erinnerte sich Hans Köberlin, daß er geträumt hatte, in der Wohnung eines amoralischen aber interessanten Bisexuellen oder Transsexuellen (?)* und dessen Freundes gewesen zu sein. Es war bei seinem Besuch um irgendwelche amoralischen aber interessanten Handlungen gegangen. Dann war da etwas mit einem Ritual zum Abschied oder zum Ende einer Saison gewesen, bei dem nur Frauen nackt hatten mitmachen dürfen. Dieses Abschiedsritual – man frage uns nicht, wovon Abschied genommen werden sollte – hatte so ähnlich geheißen wie eine Platte von Nick Drake. Hans Köberlin hatte die ganze Zeit über im Traum und in dem daran anschließenden Halberwachen überlegt, mit welchen Worten er das – diesen Traum – wohl aufschreiben würde. Es war gewesen, als ob er sich selber zwingen gemußt, endlich zu erwachen, um so wenig wie möglich zu vergessen. Träumen vom Aufwachen …
* Als Hans Köberlin seinen Traum dann niederschrieb, da kam ihm als Auslöser für diese Konstellation bloß Neil Jordans The Crying Game (1989) in den Sinn.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Samstag, 30. Juli 2016
Mittwoch, der 30. Juli 2014
[302 / 22]
Nach dem Frühstück fuhren sie mit dem Auto zu dem lokalen Flohmarkt. Hans Köberlin bat die Frau, soweit es ging – am Ende war eine Einbahnstraße, da ging es also nicht mehr – die Route seiner Dauerlaufstrecke* abzufahren. Er wollte nämlich wissen, was er so fast täglich in den vergangenen Monaten absolviert hatte. Von seinem Haus bis zu der Tankstelle, also der ersten Etappe seiner Dauerlaufstrecke, waren es etwa zweieinhalb Kilometer.
* Jetzt mußte man leider bereits sagen: seiner ehemaligen Dauerlaufstrecke.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Freitag, 29. Juli 2016
Dienstag, der 29. Juli 2014
[301 / 23]
Am Dienstag, dem 29. Juli 2014, notierte Hans Köberlin folgenden Traum in sein Arbeitsjournal: »Ich war auf der Universität und erwartete mit anderen Kommilitonen die Rückgabe der Hausarbeiten. Als es dann soweit war, da war meine Arbeit nirgendwo dabei. Schließlich sprach ich mit einem Dozenten für alte Geschichte, es war mein letzter Abteilungsleiter aus meinen Lehrjahren (zwei hatte ich da gehabt: GPS* und Schultheis). Mein Name tauchte auf seiner Liste mit der Note 2,4 auf. Ich erwachte dann, es war kurz vor sechs Uhr, mit dem fatalen Gefühl, mein Leben vertan zu haben. Schlief dann zum Glück nochmals ein und träumte, eine bestimmte gefährliche Fracht sollte mit einer Fähre von einer Insel – Hawaii oder Guantanamo – zu dem in Sichtweite entfernten New York geschafft werden. Der Fährmann war der stets mürrische Gabelstaplerfahrer aus dem Lager, in dem ich während meiner Jahre auf der Universität gearbeitet, und sein Gehilfe war das Faktotum von dort. Es ging um einen Vertrag, den ich kopiert hatte, dann um meine Bezahlung. Auf einer Bank hob ich 200 Euro ab, zwei große Scheine, und der eine, den ich in der Hand behielt, zerbröselte an den Ecken und war mit Tesafilm zusammengeklebt. Ich lief an einem Weg am Wasser entlang, das Wasser schwappte auf den Weg und es gab Alligatoren. Ein Junge sollte mitfahren, dessen Mutter hatte Angst, wollte aber gleichfalls mitfahren; sie war eine hysterische aufgedonnerte Rothaarige. Ich erwachte dann endgültig mit leicht schmerzenden Zähnen neben der schlafenden Maria.«
* Das waren seine Initialen, in die der Abteilungsschalk ein ›i‹ zu schmuggeln pflegte. Jahre später, lange nach seinen Lehrjahren, erfuhr Hans Köberlin, daß er ‒ der Schalk, nicht GPS ‒ sich umgebracht hatte, erhängt. Er war ein Windhund gewesen, hatte aber eine sehr sinnliche Frau gehabt, die Hans Köberlin an die wunderbare Ali MacGraw aus Sam Packinpahs The Getaway (1972) erinnerte. Hans Köberlin präferierte die Vorstellung, daß er es wegen ihr getan …
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
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Donnerstag, 28. Juli 2016
Montag, der 28. Juli 2014
[300 / 24]
Später schauten sie sich noch die Wiederholung einer Episode aus der Reihe Polizeiruf 110 an, eine aus der Region rund um die Hauptstadt, Bei Klingelzeichen Mord.* Eine Schulklasse wollte eine unmögliche Lehrerin erschrecken, die Situation lief jedoch aus dem Ruder und die Lehrerin wurde erstochen. Nach der Tat schafften es die Schüler über den Verlauf der Tat zu schweigen, aber die Kommissarin hatte recht: das ließ sich nicht ewig aushalten. Die Episode war alles in allem nicht schlecht gemacht, bloß die Figur der Kommissarin – Wanda Wilhelmi …: wer hatte da wohl den Verantwortlichen ins Hirn geschissen?** – , die dann im weiteren Verlauf der Handlung den Suizidversuch von Wachtmeister Krauses Nichte provozierte, ging einem auf die Nerven.***
* Zweifellos platt auf den hiesigen Titel von Hitchcocks Dial M for Murder (1954) anspielend.
** Niemand, mein lieber Hans Köberlin, denn sie hieß Wanda Rosenbaum. Wanda Wilhelmi war der Name einer Staatsanwältin während ein paar in der Hansestadt angesiedelten Episoden der Tatort-Reihe.
*** Auf ein bis zwei Wochen genau zwei Jahre später lief der Film nochmals in einem der dritten Programme. Hans Köberlin erkannte gleich an der Eingangssequenz, daß er die Episode bereits einmal gesehen, er hatte aber die Auflösung vergessen. Die Frau dagegen erinnerte sich gleich an den Täter, denn der konnte klettern …
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Mittwoch, 27. Juli 2016
Sonntag, der 27. Juli 2014
[299 / 25]
Nach dem Essen schlief die Frau stante pede ein, es war wohl die Sorge um ihren Sohn und der Streß der Reise. Hans Köberlin wollte noch ein wenig Zeit in der lauen Nachtluft im Hof verbringen. Er räumte den Tisch ab, holte sich seine Bücher und, und begann bei der leisen Musik des lokalen Klassiksenders zu lesen und zu schreiben. Von Luhmann notierte er sich »Die Imitation macht sich das zurecht, was sie imitiert.«* und machte dazu eine Anmerkung, die auf Benjamins Essays Lehre vom Ähnlichen und Über das mimetische Vermögen** verwies. Er merkte einmal wieder, um wie vieles besser er lesen und schreiben konnte, wenn seine Muse im Nebenraum schlief. Sehnsuchtsvoll stand er auf und ging, dabei jedes Geräusch vermeidend, in das Schlafzimmer. Sie lag da, und als er sie flüsternd ansprach, redete sie aus einem Traum heraus von ›Monopoly‹. Hans Köberlin sagte ihr auf ihre diesbezügliche aus dem Schlaf gestellte Frage hin, Karl Marx habe ›Monopoly‹ erfunden beziehungsweise seine Spielregeln als erster beschrieben, er habe aber das Spiel damals noch ›Mensch ärgere dich!‹ genannt.
* Niklas Luhmann, Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst; in: Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, Frankfurt am Main 2008, S. 181.
** Walter Bejamin, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. 2, S. 204ff.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Dienstag, 26. Juli 2016
Samstag, der 26. Juli 2014
[298 / 26]
Hans Köberlin frühstückte also zum letzten Mal alleine in seinem Exil. Diese fast zwanghaften Gedanken der Auflösung vor der eigentlichen Auflösung … Was das Brot betraf, da hatte er beim Einkauf gestern im ›Consum‹ wieder einmal einen Fehlgriff getan, denn es war trocken und schmeckte nach Pappe. Ihm fiel ein, daß Brecht in seinem Exil im Land der unbegrenzten Möglichkeiten angesichts des Brotes, das er dort vorfand, einen Zusammenhang zwischen schlechtem Brot und Nomadentum hergestellt hatte. Und von der Unbeständigkeit, die sich in der Art des Brotes äußerte, war Brecht dann zu der allgemeinen Unbeständigkeit der Lebensumstände, der Arbeit und der Häuser, gekommen. Dabei fiel eine seiner wunderbaren Formulierungen, die Hans Köberlin sich gemerkt hatte, nämlich: sie »wohnen die zeit nicht aus« …
* Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 214.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Montag, 25. Juli 2016
Freitag, der 25. Juli 2014
[297 / 27]
Da war Hans Köberlin also nun doch noch einmal auf dem Aeropuerto der Provinzhauptstadt gewesen, nun aber wirklich das letzte Mal in diesem Leben, denn Sonntag würde es wegen der frühen Ankunftszeit der Frau nicht gehen. Und morgen und übermorgen würde er also auch nochmals auf seiner großen Runde dauerlaufen. Und er sollte noch zwei Nächte allein …* Da die Tische der Bar an dem Platz sämtlich besetzt waren, ging Hans Köberlin gleich die Haupteinkaufsstraße hinunter und in die zweite Etappe seines Heimgangs, in die südliche Dependance der ›Tango Bar‹.
* Siehe Samstag, den 12. Juli 2014 und Montag, den 9. Juni 2014.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Sonntag, 24. Juli 2016
Donnerstag, der 24. Juli 2014
[296 / 28]
An unseren Empfindungen, so hatte der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares geschrieben, an unseren Empfindungen sei genau das wirklich, was nicht unser sei, denn die uns allen gemeinen Empfindungen bildeten die Wirklichkeit, also sei individuell an ihnen nur, was nicht der Wirklichkeit entspreche. Und, so hieß es weiter im Livro do Desassossego, sähe er eines Tages eine scharlachrote Sonne, er wäre über die Maßen beglückt, denn wie sehr wäre diese Sonne allein die seine.* Abgesehen davon, daß Hans Köberlin im abendlichen Großstadtsmog bereits des öfteren mit einem Haufen via Taschentelephon photographierender Leute den Untergang einer scharlachroten romantischen Sonne gesehen hatte, abgesehen davon also wunderte sich Hans Köberlin ein wenig darüber, daß der Hilfsbuchhalter bei dem vielen Weisen, das er schrieb, noch so an seinem Ich, an seinem Eigenen hing. Er sollte doch wissen, daß – war man kein Säulenheiliger – Weltflucht nur in der Welt und im Modus des Paradoxen passieren konnte, durch Aufgehen im allgemeinen Banalen, und nicht durch idiosynkratischem Beharren auf der eigenen kleinlichen zufälligen Besonderheit.
* Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 350.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Samstag, 23. Juli 2016
Mittwoch, der 23. Juli 2014
[295 / 29]
Heidegger fiel Hans Köberlin dazu ein: »Wir hören im Haus die Tür schlagen und hören niemals akustische Empfindungen oder auch nur bloße Geräusche. Um ein reines Geräusch zu hören, müssen wir von den Dingen weghören, unser Ohr davon abziehen, d. h. abstrakt hören.«* Und da kam, so Hans Köberlin, die zeitgenössische – sogenannte ›neue‹ – Musik ins Spiel … »abstrakt hören« und musique concrète …
* Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1960, S. 18.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
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Freitag, 22. Juli 2016
Dienstag, der 22. Juli 2014
[294 / 30]
»Es ist Morgen, ich bin am Schreibtisch, ich bin ruhig. – Meine Mutter hatte meinen Vater und mich verlassen, es war eine ziemlich beklemmende und trostlose Situation, inspiriert wohl von nicht verstandenen Eindrücken. Ich mußte an diesem Morgen irgendwann aus dem Haus, wußte aber nicht mehr genau wann und wohin (eine meiner schlimmen Urszenen!), und ich ging im Ort meiner Herkunft im Haus meiner Zeugung und meiner Geburt die Treppe hinunter, und ich kam am Schlafzimmer meiner Eltern vorbei.* Dann ging es um das Kochen des Tees. Jemand (mein ehemaliger Abteilungsleiter?) half mir dabei, tat die Teebeutel allerdings nicht in die Glaskanne (die ich in Ermangelung einer wirklichen Teekanne hier benutze), sondern direkt in den Wasserkocher, der wiederum in einer Keramikkanne stand. Dann ging es noch um die Waschmaschine, ein altertümliches Gerät, das neben einem großen Gummifußabtreter an der Promenadenmauer im Sand stand. Ich wollte das Gerät zu meinem Haus hier schleppen, dachte aber dann, daß es auch dort gut stand … Ich hörte in meinem Traum sehr realistisch die Baßklarinette von Evan Ziporyn in dem Stück Tsmindao Ghmerto.«** Diesen Traum also notierte Hans Köberlin am Dienstag, dem 22. Juli 2014, in sein Arbeitsjournal, nachdem er sich von der noch schlafenden Frau an den Schreibtisch geschlichen hatte.
* Nein, das war nicht das Ende, denn Hans Köberlin sah seinen Vater allein in dem Ehebett liegen. Er hätte ihn auch nicht getötet, hätte er seine Mutter neben ihm liegen gesehen, selbst im Traum nicht, denn Hans Köberlin hatte seine Mutter nie als Frau begehrt. Hans Köberlin wartete mit den Inzesten diverser Abstufungen, bis Cousinen in sein Leben traten und bis er frühreif genug war, die verstorbene Schwester zu imaginieren.
** Bang on a Can, Classics (2002).
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
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Donnerstag, 21. Juli 2016
Montag, der 21. Juli 2014
[293 / 31]
… ›etwas nachdenken‹, ohne Präposition, temporal, das gefiel Hans Köberlin: etwas war schon vor einem selber da und man dachte ihm nach …*
* Hans Köberlin war in Wolfgang Schultzens Dokumente der Gnosis, Augsburg 2000, S. 89, darauf gestoßen: »Nach einer gemeinverständlichen und umfassenden Darstellung der Gnosis empfindet man ohne Zweifel überall Bedürfnis, wo religiösen und philosophischen Fragen nachgedacht wird.« – »Bedürfnis empfinden« gefiel Hans Köberlin gleichfalls.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Mittwoch, 20. Juli 2016
Sonntag, der 20. Juli 2014
[292 / 32]
Und Hans Köberlin fiel ein, was Robert Walser im Kontext eines kurzen Essays über Dilettanten betreffs der Kunst geschrieben hatte: »In der Kunst gibt es nie etwas zu erneuern, nur neu zu erfassen, nie etwas zu reinigen, nur selber reinlich zu sein, nie neue Wege zu schaffen, nur selber zu versuchen, wertvoll zu sein.«* Dies mochte bezweifelbar sein, gerade was die Musik betraf, etwa Schönberg, aber Robert Walsers Unterscheidungen waren sämtlich schalkhaft, er kreuzte sie so oft, das man fast glaubte, er hebe sie auf, was er natürlich nicht tat.
* Robert Walser, Dilettanten; in: Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Jochen Greven, Zürich und Frankfurt am Main 1985, Bd. 15: Bedenkliche Geschichten, S. 62. Als Hans Köberlin diese Passage exzerpiert hatte, war es zu einem hübschen – den Fehlleister Freud wohl erfreut habenden – Verschreiber gekommen, nämlich: ›nie etwas zu reinigen, nur selber heimlich zu sein‹ … – »Meine Schusseligkeit wird mir noch einmal das Genick brechen!«
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
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Dienstag, 19. Juli 2016
Samstag, der 19. Juli 2014
[291 / 33]
… vielleicht eine aus mangelnder äußerer Sensation resultierende Langeweile … »Es gibt Leidensdrücke (und auch Langeweile ist Leiden), die in hochunwahrscheinliche Kommunikation treiben können.«*
* Peter Fuchs, Blindheit und Sicht; in: ders. / Niklas Luhmann, Reden und Schweigen, Frankfurt am Main 1989, S. 202.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Montag, 18. Juli 2016
Freitag, der 18. Juli 2014
[290 / 34]
Und während die Frau noch schlief, bewegte sich Hans Köberlin in seinem Kimono wie selbstverständlich in seinem Haus, welches doch eigentlich das Haus seines Freundes und dessen Bruder war und welches er in konkret absehbarer Zeit für immer verlassen würde. Und angesichts der noch aktuellen Selbstverständlichkeit fiel ihm ein Satz des Lehrers seines Busenfreundes ein: »Denn nur das Selbstverständliche ist geheimnisvoll.«* Ja, so war es.
* Dietmar Kamper, Zur Geschichte der Einbildungskraft, Reinbek 1990, S. 8. Das hatte natürlich mit der Struktur der Zeit zu tun.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Sonntag, 17. Juli 2016
»Apothese des Absurden«
Verabsurden wir das Leben, von Ost bis West.
(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 355).
(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 355).
Donnerstag, der 17. Juli 2014
[289 / 35]
Als Brecht am 13. Mai 1941, also kurz vor seiner Emigration in die USA, in Finnland einen Propagandafilm aus Nazideutschland sah, da merkte er in seinem Arbeitsjournal die Abgeschlossenheit der militärischen Milieus »vom leben« an: »nur zwei zivilisten, den kantinenwirt, der bier bringt, und ein bauernmädchen auf einem acker neben dem flugfeld, das ihren geschlechtsteil bringt.«* Das waren also jene beiden Aspekte des Lebens, die alles durchdrangen, und solange man die nicht ausschließen konnte, dachte Hans Köberlin, bestand noch Hoffnung.
* Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 203.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Samstag, 16. Juli 2016
Mittwoch, der 16. Juli 2014
[288 / 36]
An eine Metapher mußte er immer wieder denken, nämlich an Hans Henny Jahnns Bild eines Flusses ohne Ufer.* Und Hans Köberlin fragte sich, welcher Teufel ihn wohl geritten hatte, als er seine Ausgabe von Jahnns Werken dahingegeben hatte.
* Borges setzte dem mit seinem Vers »junto al río que tiene una sola margen« noch eins drauf (Jorge Luis Borges, G. A. Bürger; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1991ff., Bd. 14: Rose und Münze, S. 232).
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Freitag, 15. Juli 2016
Dienstag, der 15. Juli 2014
[287 / 37]
»Ich war in der Zentrale eines Konzerns, ich hatte, glaube ich, einen Termin bei dem Vorstand, und das Vorzimmer, in dem ich mich bei einer Vorzimmerdame anmeldete, lag im zweiten Stock, und der Vorstand saß im fünften Stock. Dann war ich in einem Kino, es lief der neue Film von irgendwem ‒ ein Actionfilm? … von Ridley Scott? ‒, ich war mit der Frau da und D*** war auch da. Der Frau war unpäßlich, weil sie so spät am Abend noch ein Steak gegessen hatte, und sie nahm sich vor, solches nicht mehr zu machen. Dann war der Film zuende und wir hatten den Schluß über einer Unterhaltung verpaßt. Es war eine Matinee gewesen. Ich wußte nicht mehr, wo ich meinen Mantel gelassen hatte und ging in das Vorzimmer im zweiten Stock. Dort saß inzwischen eine andere Frau, ich stellte mich vor und erzählte von meinem Termin im fünften Stock, aber sie konnte mir nicht weiter-helfen.* Ich hatte noch mehr und sehr detailreich geträumt, aber es dann über dem Wachwerden vergessen. Dachte beim Aufwachen daran, wie wir als Kinder, wenn wir im Belltal gespielt, in die Mineralwasser- und Limonadenfabrik gegangen sind und eine Flasche Limonade geschenkt bekamen, die wir aber vor Ort austrinken mußten. Dann dachte ich an meine bretonische Seemannsjacke, die auf dem Hof des Verlegers in einer Kiste liegt. Eben im Traum, das war mein ehemaliger langer Wintermantel gewesen, den ich im Zuge der allgemeinen Auflösung vor einem Jahr nach Takatukaland geschickt habe.**
* Einige Elemente aus diesem Traum hatten prophetischen Charakter.
** Als ›nach Takatukaland schicken‹ bezeichnete Hans Köberlin die Abgabe alter Kleidung bei der Altkleidersammlung.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
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Donnerstag, 14. Juli 2016
Montag, der 14. Juli 2014
[286 / 38]
Bei Hans Köberlin kam es einmal wieder zu einem schönen, der eigenen Sache geschuldeten Verleser, als er las, was Edmond am Samstag, dem 13. Oktober 1883, als eine Methode bezeichnet hatte, die bei Zola ‒ ausgerechnet! ‒ häufig wiederkehre, nämlich die Figur des Buches, die mit sich selber spreche und laut von sich erzähle.* ‒ In der von Edmond zensierten Fassung, die Hans Köberlin im Original zuhanden, tauchte diese Passage nicht auf, so daß er Cornelia Hastings Übersetzung, die ihm seltsam vorkam, nicht vergleichen konnte, denn »die Figur des Buches, die mit sich selbst spricht und laut von sich erzählt« als »Methode« … irgendwie paßte das nicht … also entweder, so Hans Köberlin, die Figur in einem Buch, die mit sich selber spricht und laut von sich erzählt, oder aber, wie er instinktiv verlesen hatte, die Figur des Buches, das mit sich selber spricht und laut von sich erzählt. Diese Verlesung entsprach dem, was Nabokov über das Kirke-Kapitel des Ulysses gesagt hatte.**
* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 7, S. 252.
** Siehe Samstag, der 11. Januar 2014.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
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Mittwoch, 13. Juli 2016
Sonntag, der 13. Juli 2014
[285 / 39]
Nach dem Abendessen gingen sie nochmals an die Promenade. Wegen des Finales bestand keine Möglichkeit, sich zu einem Rotwein auf die Terrasse der ›Tango Bar‹ setzen zu können. Die Einheimischen machten aus dem öffentlichen Schauen ein Familienfest und auf den Tischen, zwischen denen die Kinder wuselten, türmten sich die Speisen. Vor der Bar standen in mehreren Reihen Passanten, die auf ihrem Weg anhielten, um zu erfahren, wie der aktuelle Stand des Spiels war. Aus einer Laune heraus bekam die Frau Lust, ohne sich dabei für eine der Mannschaften zu begeistern, dem Treiben zuzuschauen, also flanierte man weiter und fand in der nur mäßig besetzten ›Exotic Bar‹ einen freien Tisch. Die Frau setzte sich so, daß sie ab und an einen Blick auf einen der Monitore werfen konnte, Hans Köberlin genoß die Aussicht auf die erleuchtete Promenade, die vereinzelten Flaneure und dahinter den fast leeren Strand und das dunkle Meer. Er war froh, in der Fremde zu sein, als das Spiel dann mit diesem Ergebnis vorbei war. In Anlehnung an Canetti überlegte er sich folgendes Ritual, das das agonale Prinzip ad absurdum führen würde: die Sieger müßten einen Kotau vor den Besiegten machen und sie dafür um Entschuldigung bitten, daß sie sie besiegt hätten. Dazu erinnerte er, was die Brüder am 16. Mai 1860 notiert hatten, nämlich daß die siegreichen Angelegenheiten sie abstießen.*
* Vgl. Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 2, S. 431f.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Dienstag, 12. Juli 2016
Samstag, der 12. Juli 2014
[284 / 40]
Nach dem Erwachen am Samstag, dem 12. Juli 2014, notierte Hans Köberlin in sein Arbeitsjournal: »Das war meine letzte Nacht allein hier, gleich werde ich zu meinem letzten langen Dauerlauf hier starten, natürlich mit Robert Wyatts ’68.«
* Mit beiden Annahmen ‒ der letzten Nacht allein und dem letzten langen Dauerlauf ‒ sollte Hans Köberlin, wie sich noch zeigen wird, falsch liegen.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).
Montag, 11. Juli 2016
Freitag, der 11. Juli 2014
[283 / 41]
Auf der Toilette in der hinteren Wohnung sitzend las Hans Köberlin eine nette Anekdote aus dem schier unerschöpflichen Fundus der Brüder, die am 5. September 1860 in einem Hotel in der Documentastadt abgestiegen waren. Dort klagte ihnen der Kellner sein Leid über den lokalen Souverän, und meinte, man habe zwar eine Opposition, aber niemanden, der sich an deren Spitze setzen würde. Sogleich imaginierten sie den Beginn einer Posse: ein junger Mann, der nichts zu tun habe, plötzlich erleuchtet … und der die Gelegenheit beim Schopf packe und Oppositionsführer in Kassel werde* …: Oppositionsführer in Kassel …: auch so eine Geschäftsidee (No 6) …
* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 2, S. 496f.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).
Sonntag, 10. Juli 2016
Donnerstag, der 10. Juli 2014
[282 / 42]
Beruhigung schaffte einmal wieder eine Nachricht des Busenfreundes …
hans köberlin,Hans Köberlin erinnerte sich noch gut an die Habilitation des Busenfreundes … Es war bei ihm, bei Hans Köberlin – zwölf Jahre war das jetzt schon wieder her –, die Zeit gewesen, in der er einerseits in dem Haus, das er damals mitbesessen, seinen idealen Schreibtisch installiert bekommen, und gleichzeitig die Zeit, in der er begonnen, auf dem Vulkan zu tanzen, wie man so sagte, und also gerade von diesem wunderbaren idealen Schreibtisch aus begonnen hatte, seinen Exodus einzuleiten …
las eben zufällig: »Der paradoxe Punkt, der das Subjekt / der Exzeß war und dadurch die Ordnung aufrecht halten konnte, ist nun exzentrisch paradox geworden und damit nicht mehr zu gebrauchen für eine Fassung des (transzendentalen) Subjekts, das ›aus der großen Kette des Seins herausragt, ein Loch, eine Lücke in der Ordnung der Wirklichkeit.‹ Vorbei! Die Löcher sind verschwunden, aber noch da, wenngleich wohl nicht mehr im Sein, nicht mehr im Subjekt, nicht mehr im Denken. Man kann sie sehen, aber nicht mehr durch sie hindurch: offene Stellen im Geschlossenen, die vielleicht Erinnerungen wecken, Erinnerungen daran, was es bedeutete und wie es sich anfühlte, als Eindringen Rauskommen war.«
zwölf jahre her ist das jetzt schon wieder … hat mich beruhigt und melancholisiert zugleich.
das schönste dir und der frau, hans köberlin!
* Der sollte sich allerdings noch zweieinhalb Jahre hinziehen, denn erst mußten ihn noch die sieben Plagen treffen …
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).
Samstag, 9. Juli 2016
Mittwoch, der 9. Juli 2014
[281 / 43]
Als Hans Köberlin auf der Promenade eine in ihrer Eleganz sehr beeindruckende Frau entgegenkam, da fiel ihm ein Satz Alexander Kluges ein: »Sie gab sich mit einer Einfachheit, die es bei einfachen Leuten nicht gibt …«
* Alexander Kluge, Lebensläufe. Anwesenheitsliste für eine Beerdigung, Frankfurt am Main 3. Aufl. 1980, S. 11.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).
Freitag, 8. Juli 2016
Dienstag, der 8. Juli 2014
[280 / 44]
Diotima meinte dann, er solle doch jetzt schon wegen einer möglichen Fortsetzung der Arbeit nachfragen. Immer hatte sie einem solche wohlfeilen Ratschläge gegeben … Erst später, als er es in Lichtenbergs Sudelbüchern las, wurde ihm klar, warum er selber mit seiner Anfrage zögerte: »Selbst die Ungewißheit, worin wir uns über gewisse Gegenstände befinden, ist zuweilen nützlich. Die Hoffnung bekommt dadurch einen größeren Spielraum, und man hält immer dasjenige für wahr, was unserm Zustande am angemessensten ist.«*
* Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher; in: Schriften und Briefe, München 1968ff., Bd. 2, S. 416.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).
Donnerstag, 7. Juli 2016
Montag, der 7. Juli 2014
[279 / 45]
Von Can hörte Hans Köberlin Tago Mago, eines der besten Alben der Musikgeschichte überhaupt.*
* Was Hans Köberlin nicht wußte: es gab eine Isla de Tagomago, eine Baleareninsel etwa 900 Meter östlich von Ibiza, also relativ nah sogar. ‒ Apropos Ibiza: am Mittwoch, dem 26. August 2015, also gut ein Jahr nach seiner Rückkehr, sollte Hans Köberlin folgendes in seinem Arbeitsjournal notieren: »Jetzt, im Alter von 55 Jahren, habe ich endlich den Film gesehen, dessen Soundtrack ich seit fast vierzig Jahren höre (es fehlt jetzt noch La Vallée). Selbst die nicht so inspirierten Filme aus der Zeit berühren mich, sie stehen mir für Möglichkeiten, obwohl es hier die Geschichte eines Niedergangs war. Godard stand einmal wieder Pate, und es gab einen Kampf mit Windmühlenflügeln.«
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).
Mittwoch, 6. Juli 2016
Sonntag, der 6. Juli 2014
[278 / 46]
Hans Köberlin beklagte sich während ihrer medialen Kommunikation bei der Frau, daß es Leute unter seinen Bekannten gab, die eine zwar realistische, aber nicht gerade angenehme Art hatten, ihm zu sagen, was ihn nach seiner Rückkehr an sauren Notwendigkeiten erwarten würde …
* Hans Köberlin nannte Namen, wir nicht.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).
Dienstag, 5. Juli 2016
Über Motivation
… führt Christóbal im Zusammenwirken mit Ahasver Kusmitsch ein Experiment zur »Entfurchtung« des wissenschaftlichen Mitarbeiterstabs durch. Dabei kommt ein merkwürdiger Umstand zutage: Das erste, was die »Entfurchteten« tun, ist, überhaupt nicht mehr zu arbeiten …
(Boris Strugatzki, Kommentar zu: Arkadi & Boris Strugatzki, Werkausgabe, hrsg. von Sascha Mamczak und Erik Simon, München 2. Aufl. 2011, Bd. 3, S. 851).
(Boris Strugatzki, Kommentar zu: Arkadi & Boris Strugatzki, Werkausgabe, hrsg. von Sascha Mamczak und Erik Simon, München 2. Aufl. 2011, Bd. 3, S. 851).
Samstag, der 5. Juli 2014
[277 / 47]
Nach dem Erwachen las er im Bett bei Borges etwas, das der über die Gattung ›Märchen‹ geschrieben hatte und das mit dem korrelierte, was Clemens Limbularius sich zu Beginn des ersten von uns festgehaltenen seltsamen Abenteuers beim Anblick eines Doppelhauses gedacht hatte, nämlich …
Jede Symmetrie ist eine Lüge, dachte Clemens, weil es ja zwei nur quasiidentische weil spiegelverkehrte Teile sind. Das Drama der zwei, die zusammen sind, ist: sie gehen entweder in einem auf oder zerfasern sich im Unendlichen. Außerdem, wie Blumenberg richtig bemerkt hatte, gab es da eine grundlegende Asymmetrie in allem Sein überhaupt, nämlich der Rest, der in dem voranfänglich symmetri-schen Verhältnis von Materie und Antimaterie am Anfang von allem dann von der Materie übrig geblieben war und der eben ausmachte, daß da etwas war und nicht nichts.*Borges also hatte geschrieben, das abendländische Märchen sei von perfekter Symmetrie, und er fragte sich, ob es etwas gäbe, das der Schönheit weniger ähnele als Symmetrie, um sich selbst dann in Klammern zu antworten, er wolle keine Apologie des Chaos liefern, er glaube, daß in den Künsten nichts so gefalle wie unvollkommene Symmetrien.** Der Ansicht war Hans Köberlin auch, und nicht bloß in Hinsicht auf die Künste, sondern auch auf wesentlicher Bereiche des Daseins: die linke Brust einer Frau war immer etwas anders geformt als die rechte …
* Siehe vom Verf. HannaH & SesyluS oder Eine Reise aus der Welt in drei Tagen, Berlin 2. ein wenig verbesserte Auflage 2012, S. 20.
** Vgl. Jorge Luis Borges, Von Büchern und Autoren; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1991ff., Bd. 4, S. 199.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).
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Montag, 4. Juli 2016
Freitag, der 4. Juli 2014
[276 / 48]
Wir suchen eine Passage in unserem Bericht, in der wir einen Eintrag aus Brechts Arbeitsjournal vom 12. April 1941 anfügen wollen,* allein wir finden sie nicht … Entgleitet uns das Ganze? Vielleicht erinnert sich eine Leserin oder ein Leser …**
* merkwürdig, wie das manuskript während der arbeit zum fetisch wird! ich bin ganz abhängig vom aussehen meines manuskripts, in das ich immerfort einklebe und das ich ästhetisch auf der höhe halte. immer wieder ertappe ich mich [dabei], daß ich, nur damit die seite ausgeht, versuche, mit einer ganz bestimmten anzahl von versen auszukommen für eine änderung! (Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 190).
** Sollte ich die betreffende Passage wiederfinden, wird dieser Eintrag hier an dieser Stelle verschwinden.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).
Sonntag, 3. Juli 2016
Donnerstag, der 3. Juli 2014
[275 / 49]
Heute vor 118 machte Edmond seinen letzten Eintrag in das Journal, daß er vor Jahrzehnten mit dem mittlerweile schon lange toten Bruder begonnen …
Freitag, 3. Juli – Tag unter vier Augen mit Mirbeau im Clos-Saint-Blaise verbracht. Die Robins sollten kommen, aber derzeit gehört Robin Liane de Pougy.»Hier endet das Journal von Edmond de Goncourt. Er stirbt dreizehn Tage später am 16. Juli 1896 in Champrosay auf dem Landgut von Alphonse Daudet, der ihm in der Stunde des Todes beisteht.« Das vermeldeten die Herausgeber im Anschluß, und mit was für einer Geschichte endete es …: das hatte Stil! Wir hoffen, daß Hans Köberlin uns den Gefallen tut, und gleichfalls am Ende ein Histörchen dieser Art zu präsentieren. – Aber schade, wir hätten es poetischer gefunden, wenn es diese Frist von dreizehn Tagen nicht gegeben hätte und ihm der Tod die Feder im angefangenen Satz aus der Hand genommen hätte.
Montesquiou sollte mit mir zusammen um 2 Uhr 25 aufbrechen, aber er ist erst zum Diner um 7 Uhr gekommen, infolge eines mit dem Bürgermeister von Douai verbrachten Tages, um eine Feier zu Ehren von Valmore vorzubereiten. Wir plaudern über die schlechte Herstellung des Journal, und über die Unkenntnis des Werts der Abschrift von Xau, den er nicht dazu bringen konnte, Artikel von La Jeunesse anzunehmen, nach seinem bemerkenswerten Buch Les Nuits, les ennuis et les âmes des nos plus notoires contemporains. Über den philosophischen Gleichmut mit dem Madame Robin den Betrug ihres Mannes akzeptiert, indem sie ihm Ratschläge gibt, wie man sie einem Bruder gäbe. Und er teilt mir mit, daß Zola um die Auflösung seines Vertrags mit dem Figaro gebeten hat, wegen eines Artikels, der nicht zum Druck freigegeben wurde; und diese Unterhaltung über die einen und die anderen aus der Literatur wird unterbrochen durch das Umherstreifen inmitten der Blumen, wo er über einige duftende Buchten, die gleichsam eine große Palette bilden, zu mir sagt: »Zola sagte beim Anblick dieser wohlriechenden Wicken zu mir: ›In jener Zeit, in der ich gewissermaßen nichts zu Essen hatte, konnte ich nicht widerstehen, wenn es welche gab, manchmal für einen Abend welche zu kaufen, und ich stellte sie auf meinen Nachttisch, und dieser leichte Duft von Orangenblüten ließ mich in der Nacht Träume haben, in denen meine ganze Kindheit vorüberzog.‹« Während des ganzen Diners spricht Montesquiou mit einer unermüdlichen Verve von eigenartigen Leuten, Gruppen sonderbarer Frauen, die auf der gestrigen Feier von Castellane waren. Dreistöckige Obstschalen mit legitimistischen Bonbons. Daruntergemengt eine Lobeshymne auf das Engadin und auf das gute Zimmer bei einem Apotheker, wo es nicht nach dem Fußabtreter eines großen Hotels roch, der all die Miasmen der Dinge bewahrte. Will Madame Mirbeau dazu drängen, dorthin zu fahren, die leidend ist und Zerstreuung sucht von ihrem Haus und drei Wochen in Évian verbringt mit einer Frau ihrer Bekanntschaft.
Im Zug, während er mir vom Buch in Prosa erzählt, das er schreiben will und das nur er schreiben kann über seine Erinnerungen an die alten Gesichter des Faubourg Saint-Germain, erzählt er mir tausend Anekdoten, darunter diese, die einer Frau seiner Bekanntschaft zustieß, die sehr stolz ist auf ihr Vermögen. Sie engagiert eine kleine Bonne mit schmuckem Häubchen. Und nachdem die Konditionen ausgehandelt sind, in dem Augenblick, als sie hinausgehen will, bleibt sie an der Tür stehen und wirft ihr zu: »Ich frage Madame, ob Madame Gassi führt: in diesem Fall bin ich mit den Konditionen nicht mehr einverstanden.« Gassi führen heißt mit seiner Bonne Einkäufe machen.*
* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 11, S. 710ff.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).
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Samstag, 2. Juli 2016
Mittwoch, der 2. Juli 2014
[274 / 50]
… denn heute vor einem Jahr hatten sich die Frau und Hans Köberlin zum ersten Mal mit Absicht getroffen und sich dabei gleich zum Abschied zum ersten Mal geküßt; und heute vor neun Monaten waren sie aufgebrochen, Hans Köberlin in sein Exil zu bringen, und nun vermißte er sie arg …*
* Siehe Mittwoch, der 2. Oktober 2013.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).
Freitag, 1. Juli 2016
Dienstag, der 1. Juli 2014
[273 / 51]
Nach dem Erwachen am Dienstag, dem 1. Juli 2014, notierte Hans Köberlin folgenden Traum in seinem Arbeitsjournal: »Ich hatte das Buch eines Mannes aus den Beneluxländern verlegt, die obskuren Ansichten irgendeines seltsamen Mystikers, und wollte nun zusammen mit der Frau zu dem Autor fliegen, um ihm sein frisch erschienenes Werk zu übergeben. Die Bücher und die Übersetzungen (?) waren in Kartons, wir flogen mit einer osmanischen Fluggesellschaft und ich fragte mich, ob ich ihr vertrauen konnte. Auf dem Flughafen im Osten der Hauptstadt herrschte dichter Nebel, wir saßen in der Maschine und ich schaute aus dem Fenster und sah bloß das Naßgraue unter mir mit einigen vereinzelten gelben Lichtern. Dann waren wir in Land des Autors gelandet, es war Nacht. Ich stieg schnell aus, um mich um die Kartons mit den Büchern zu kümmern. Ich fand sie draußen auf einem Berg anderer Kisten, ein Gabelstapler fuhr bei seinen Hin- und Herfahrten daran vorbei und schubste sie dabei jedesmal an. Ich beschimpfte den Fahrer wüst und schaffte die Kartons aus dem Weg. Dann kamen zwei lokale Flughafenarbeiter und fragten, was in den Kisten sei. Bücher, sagte ich und nannte den Namen des Autors. Sie kannten ihn, was mich sehr verwunderte. Ich erfuhr aber, daß er sich in seiner Heimat einer ungeheuren Popularität erfreute. Ob sie eines der Bücher sehen könnten, fragten sie. Klar, sagte ich und nahm eines aus dem Karton und aus der Kunststoffhülle. Auf dem Umschlag war der vergrößerte Druck eines Heiligen zu sehen, silbern auf dunkelblauem Leinen, fast wie eine Ikone sah das aus. Die beiden Flughafenarbeiter lachten, denn sie erkannten in dem Gesicht des Heiligen das des Autors. Ich hatte den mittelalterlich aussehenden Druck von dem Autor bekommen und hatte nichts von dieser Manipulation gewußt, da ich ihn nie persönlich getroffen hatte. Er war anscheinend ein Schelm und ein Scharlatan, nicht verwunderlich in dem Lande Tyll Ulenspiegels. Wir blätterten in dem Buch, es gab noch zwei Abbildungen, auch alte Bilder, die gut geraten waren. Dann packte ich das Exemplar wieder zurück und die Arbeiter schickten sich an, die Übersetzungen aus dem improvisierten und mittlerweile beschädigten Karton in mehrere ordentliche Kartons zu verpacken. Hier nahm nun alles seinen geregelten Gang und mir fiel mit einem schlechten Gewissen ein, daß ich beim Aussteigen aus dem Flugzeug die Frau mit dem Gepäck und den Mänteln alleingelassen hatte.* Ich begab mich schnell zu ihr in unsere Wohnung, es war ein ziemlich neuer Bungalow, noch ohne Möbel und mit einem rauhen olivgrünen Teppichboden. Ich legte mich zu ihr, sie hatte die Wartezeit mit Fernsehen verbracht. Ich sah an der Vielzahl der Sender, daß wir einen digitalen Fernsehanschluß hatten. Dann ging es noch darum, ein Verbrechen aufzuklären. Der Chef der Ermittler war Peter Sloterdijk (der aber auch ein wenig wie Jeff Bridges war), er hatte noch einige Gehilfen. Mit einer List schaffte er es schließlich nach einigem hin und her, die Verbrecher aus der Reserve zu locken. Dann nahm die Geschichte eine überraschende Wende und ich wurde wach.«
* Was Hans – ›Frauen zuerst!‹ – Köberlin im Wachen wohl hoffentlich nicht passiert wäre!
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).
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