Montag, 29. Februar 2016

Empirie, 4. Update – oder: Schalttag


[X = X]
Einen Samstag, den 29. Februar 2014, hat es nie gegeben,* nutzen wir diesen Schalttag also für ein wenig Empirie …

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):

  • Stand des Manuskripts: S. 918 von ca. 1.800 Seiten
  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 801 von ca. 1.800 Seiten
    • Kapitel: XII (= Phase V – oder: Un gringo en Calpe) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Donnerstag, der 20. Februar 2014, der 142. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Fußnoten Stand des Manuskripts: 2639
  • Fußnoten am Stand der Überarbeitung: 2262
  • Beginn der Handlung: 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags**
  • Ende der Handlung: fällt mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen


* Wie berichtet man von Tagen, die es nie gegeben hat? Thomas Pynchon hat das Problem in Mason & Dixon unserer Ansicht nach bravourös gelöst …
** (= die momentane Fußnote 325 auf S. 67) Wir haben für unseren Prolog den Zeitraum von Anbeginn der Schöpfung bis zum Dienstag, dem 1. Oktober 2013 veranschlagt. – Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47).

Wird aktualisiert!

Sonntag, 28. Februar 2016

Freitag, der 28. Februar 2014


[150 / 174]
Hans Köberlin träumte von irgendetwas mehr oder weniger Abstraktem, das sich im Verlauf des Traums in eine Hochzeit auf einem alten Gutshof verwandelte. Die Braut war gerade von dem Vater der Braut entführt worden (er wollte sie, glaubte Hans Köberlin in seinem Traum, an einen bestimmten Ort schaffen, wozu, das träumte Hans Köberlin nicht, wir allerdings haben einen üblen Verdacht). Eine fremde Frau geriet in die Hochzeitsgesellschaft, sie wurde eingeladen, mitzufeiern, fragte aber, ob man ihr ein Taxi rufen könne. Als sie weinte kam die Frage auf, ob sie eventuell die ehemalige Geliebte der Braut sein könnte. Nach dem Erwachen aus diesem Traum dachte Hans Köberlin natürlich an Kafka …*


* »Als Eduard Raban in bläulich grauem Überzieher durch den Flurgang kommend in die Öffnung des Tores trat, konnte er sehn, wie es regnete. Es regnete wenig. Raban schaute auf die Uhr eines scheinbar nahen, ziemlich hohen Turmes, der in einer tiefer gelegenen Gasse stand. Eine kleine dort oben befestigte Fahne wurde, für einen Augenblick nur, vor das Zifferblatt geweht. Eine Menge kleiner Vögel flog herab, fest aneinander geschlossen und auseinander gespannt. Es war fünf Uhr vorüber. Raban stellte seinen mit schwarzem Tuch benähten Handkoffer nieder, lehnte den Schirm an einen Türstein und brachte seine Taschenuhr, eine Damenuhr, die an einem schmalen, schwarzen um den Hals gelegten Band befestigt war, in Übereinstimmung mit jener Turmuhr, wobei er einige Male von einer Uhr zur andern sah. Eine Weile war er völlig damit beschäftigt und dachte das Gesicht bald gesenkt, bald gehoben an gar nichts anderes in der Welt.« (Franz Kafka, der Anfang von Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, Fassung C).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Samstag, 27. Februar 2016

Donnerstag, der 27. Februar 2014


[149 / 175]
Auch hinter dem Durchgang war alles so, wie er es von der Tour mit der Frau an seinem zweiten Tag hierdem fünften Tag seines Exils – erinnerte, souveräner als damals hangelte er sich diesmal allerdings an dem in der Wand verankerten Tau entlang über die glatten Felsen. Es waren wie damals erstaunlich viele Leute unterwegs, und desöfteren mußte er am Rand stehenbleiben, um vom Gipfel zurückkehrende Gruppen vorbeizulassen. Den toten pittoresken Baum, von dem er damals ein Bild gemacht, stand noch genauso pittoresk da, und wie damals machte Hans Köberlin ein Bild. An einer Stelle, als man von dem Weg zur Spitze des Ifachs in den Hang hinein abbiegen mußte, folgte er einfach ein paar Osteuropäern ein Dutzend Meter vor ihm, die sich aber prompt verstiegen hatten, wie sich bald herausstellte. Sie stiegen zurück, Hans Köberlin allein quer, bis er auf der richtigen Route war. Dann war es wieder geschafft, Hans Köberlin saß auf einem Felsen auf dem Gipfel und schaute vorsichtig hinab auf sein Reich, jetzt mit dem Kennerblick des Bewohners, und auch die Katzen und Möwen lungerten wie vor 144 Tagen herum, immer bereit, sich auf etwas Eßbares zu stürzen. Und Hans Köberlin fielen Verse aus Le Cimetière Marin ein …
Temple du Temps, quʼun seul soupir résume,
À ce point pur je motte et mʼaccoutume,
Tout entouré de mon regard marin;
Et comme aux dieux mon offrande suprême,
Le scintillation sereine sème
Sur lʼaltitude un dédain souverain.
Hans Köberlin ging dann noch den Weg zur Spitze des Ifachs, dem Punkt, der am weitesten ins Meer hinausragte, um dieser bewußten Wiederholung* einen neuen Aspekt hinzuzugeben.


* »Wir könnten uns überhaupt von nichts einen Begriff oder ein Urteil machen«, hatte der Mann ohne Eigenschaften vor dem General Stumm von Bordwehr doziert, »wenn alles nur einmal vorüberhuschte.« (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1978, S. 377). Freilich mußte man sich, so Hans Köberlin, dabei an so manche Passantin denkend, nicht von allem einen Begriff oder ein Urteil machen können.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Freitag, 26. Februar 2016

Mittwoch, der 26. Februar 2014


[148 / 176]
Nach dem Duschen und nach dem – nach längerem einmal wieder – Rasieren stürmte und regnete es heftig, womit sich zwei Fragen Hans Köberlins von selber mit »Nein!« beantworteten, nämlich …
»Soll ich einen längeren Spaziergang machen?«
Und …
»Sollte ich einmal wieder (nachdem ich gestern einen Nachbarn – den Heimkommhuper – dies tun gesehen habe) die Gärten mit dem Schlauch bewässern?«
Er setzte sich also mit einer Kanne grünem Tee in den leeren Wintergarten und suchte in seiner digitalen Merkursammlung etwas, was, das können wir nicht sagen, weil er es nicht fand, er stieß dort aber beim Suchen auf eine Weisheit von Umberto Eco, die ihm sehr gut gefiel und die er sich merkte und die uns an unsere im Prolog mitgeteilten literarischen Absichten erinnerte …
Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: »Ich liebe dich inniglich«, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: »Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich.« In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat, nachdem er klar zum Ausdruck gebracht hat, daß man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß er sie liebe, aber daß er sie in einer Zeit der verlorenen Unschuld liebe. Wenn sie das Spiel mitmacht, hat sie in gleicher Weise eine Liebeserklärung entgegengenommen. Keiner der beiden Gesprächspartner braucht sich naiv zu fühlen, beide akzeptieren die Herausforderung der Vergangenheit, des längst schon Gesagten, das man nicht einfach wegwischen kann, beide spielen bewußt und mit Vergnügen das Spiel der Ironie … Aber beiden ist es gelungen, noch einmal von Liebe zu reden.*

* Umberto Eco, Nachschrift zum »Namen der Rose«; zit, nach: Dieter Wellershoff, Im Sog der Entropie. Thomas Pynchons »Die Enden der Parabel«; in: Merkur, Heft 472, Juni 1988, S. 487f. – Als Hans Köberlin viel später, am Freitag, dem 19. Februar 2016, vom Tode Umberto Ecos erfuhr, sollte er sich an diese Passage erinnern.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Donnerstag, 25. Februar 2016

Dienstag, der 25. Februar 2014


[147 / 177]
Ein Blick in Hans Köberlins Arbeitsjournal machte uns auf unser Versäumnis Hans Köberlins Küche betreffend* während der vergangenen Tage über aufmerksam: »Heute gab es Hühnchen mit Salat, gestern gab es Fertigtortilla mit Salat, vorgestern gab es Feines vom Rind mit Salat, vorvorgestern gab es Langostinos, am Freitag gab es Spaghetti alla Pesto und am Donnerstag gab es Spaghetti mit Muscheln, weiter zurück kann ich mich nicht erinnern.« Wir leider auch nicht.


* »Satans Lehre: Der Magen muß was zum verarbeiten haben! Wir wollen aber eine edle mysteriöse chemische Retorte sein, keine Steinklopfmahlmühle!« (Peter Altenberg, Pròdromos, Berlin 1906, S. 24).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Mittwoch, 24. Februar 2016

Montag, der 24. Februar 2014


[146 / 178]
Wir jedenfalls, wir versuchten bei unserem Beobachten Hans Köberlins, Benjamins dritte geschichtsphilosophische These zu beherzigen: »Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.«


* Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte; in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. I, S. 694.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Dienstag, 23. Februar 2016

Sonntag, der 23. Februar 2014


[145 / 179]
Am Abend hörte Hans Köberlin einmal wieder Conlon Nancarrows Studien für mechanisches Klavier in einem Arrangement für Kammerorchester. Seine Einspielung, die er sich Anfang der neunziger Jahre während seines Studiums gekauft hatte, war mit dem Ensemble Modern, mit dem ja auch Frank Zappa seine letzte Musik gemacht hatte.*


* Zappa erwähnte Conlon Nancarrow auf Tinsel Town Rebellion (1981): »Letʼs hear it for another great Italian, Conlon Nancarrow, ladies and gentlemen.« Hans Köberlin konnte nicht verifizieren, ob der us-amerikanisch-mexikanische Komponist wie Zappa selber italienische Vorfahren gehabt hatte.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Montag, 22. Februar 2016

Samstag, der 22. Februar 2014


[144 / 180]
N-Lite, neben Amnerika und Beat the Reeper eines von Hans Köberlins Lieblingsstücken auf Civilization, Phase III, hatte Zappa selbst (was Hans Köberlin vorher nicht gewußt hatte) als sein musikalisches Vermächtnis angesehen. Zappa starb, nach Barry Miles, stoisch und couragiert und bei Bewußtsein. Da Hans Köberlin befürchtete, wenn es soweit war, weder Stoizismus noch Courage zu besitzen, wußte er nicht, ob er sich Bewußtsein wünschen sollte.


* Am Sonntag, dem 3. Oktober 1875, hatte Edmond in seinem Journal vermerkt: »Ce que je demande avant tout à Dieu, cʼest de mourir dans ma maison, dans ma chambre.« Das würde auch Hans Köberlin, wenn es denn nicht auf einen Schlag ginge, wollen. Hier wäre er gerne auf der Dachterrasse, so gesetzt oder hingelegt, daß er auf die Sierra de Oltà schauen könnte, aber zur Not auch im Bett mit Blick auf seine Galerie der nackten Schönen, obwohl das Milchglas des leeren Wintergartens die Sicht auf das Spezifische hier arg beeinträchtigte und auf ein paar Palmenblätter vor blauem Himmel reduzierte. Bei schlechtem Wetter ginge auch statt der Dachterrasse – wie beim Lesen und Schreiben – der vordere Teil des Leeren Wintergartens, da, wo jetzt der Tisch stand.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Sonntag, 21. Februar 2016

Freitag, der 21. Februar 2014


[143 / 181]
Am Freitag, dem 21. Februar 2014, gab es anläßlich Margarethe von Trottas Geburtstag im Jahre 1942 zwei Filmkalenderblätter, auf dem man sie einmal bei den Dreharbeiten von Heller Wahn (1983) mit Hanna Schygulla und Angela Winkler und dann noch bei den Dreharbeiten von Das zweite Erwachen der Christa Klages (1977) mit dem gerade im Film von der Polizei erschossenen Marius Müller-Westernhagen sah.* Hans Köberlin begann diesen Tag mit der Niederschrift seines Traumes in sein Arbeitsjournal: »Nach acht Uhr. Ich entfernte im Traum einer Frau ein ausgegangenes Haar und berührte dabei ihre bloße Schulter. Sie war davon wie elektrisiert, unsere Gesichter näherten sich, sie rauchte eine Zigarette und blies kurz bevor wir uns küssen würden den Rauch aus ihrem Mund. Es kam allerdings im Traum nicht zu dem Kuß, ich weiß nicht mehr, warum nicht. Dann war ich mit einem meiner alten Kommunarden und mit noch jemandem (der Frau?) mit dem Auto unterwegs (auf der Rückfahrt von hier?). Der alte Kommunarde, obwohl ohne Lizenz dazu, fuhr. Wir hielten an der Straße, die vom Sauerbrunnen hinab nach dem Ort meiner Geburt führte. Der Kommunarde wollte einen Strauß absägen und mitnehmen, es dämmerte bereits und er hatte für sein Unterfangen gefährlich in einer Kurve geparkt. Dann saß ich in einem Zimmer auf einem großen Bett, es waren mehrere Personen in dem Raum, eine befreundete Psychoanalytikerin kam angekrochen und spielte (im Kontext ihres Berufes) bipolare Störung. Sie war vollkommen nackt und kam mir sehr nahe. Als ich etwas Frivoles sagte, machte sie mir klar, daß sie sich nicht mehr mit mir einlassen würde. Dann (ich weiß nicht mehr genau, wo diese Sequenz hingehörte) war ich auf einer Baustelle (der ›Tango Bar‹?), einer der hiesigen Arbeiter fragte mich in meinem Idiom, ob ich Wer wird Millionär? kenne (ich glaube, er nannte zuerst den hiesigen Titel). Dann fragte er, ob ich wisse, wer Ananke sei. Ich antwortete, das sei eine antike Göttin, so eine Art Schicksalsgöttin, die noch über den Göttern stehe.«


* Auch Sam Peckinpah hatte Geburtstag (im Jahre 1925), ein Still aus dessen Œuvre – etwa aus The Wild Bunch (1969) oder aus The Getaway (1972) oder aus Bring Me the Head of Alfredo Garcia (1974) – hätte Hans Köberlin bevorzugt. Der aktuelle Zitatenkalender zitierte einen Eintrag vom 21. Februar 1864 aus dem Journal der Brüder: »Je vais voir lʼExposition des dessins de Delacroix. Toutes les miettes dʼétudes, toutes les raclures de carton, toutes les bribes de crayonnage, tous les ratages, tous les repentirs, tous les essuie-pinceaux du peintre sont là, exposés en grande pompe, religieusement. Il y a vraiment, dans ce moment-ci, un engouement des célébrités défuntes, un amour des riens laissés par elles, qui ressemble à un culte des saintes reliques, et je ne désespère pas de voir bien-tôt, vendre aux Commissaires-priseurs, lʼempreinte des doigts de pied dʼun peintre illustre sur ses der-nières chaussettes.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Samstag, 20. Februar 2016

Donnerstag, der 20. Februar 2014


[142 / 182]
Auf der Doppelseite 176 / 177 sah man auf der Abbildung einer Photographie von Linda McCartney Frank Zappa 1968 in seiner New Yorker Wohnung in der Charles Street, da bereits als Ikone, und an der Wand sah man die Vergrößerung einer Photographie mit einer wunderhübschen Gail, man sah diversen Kram und ein Bücherregal,* in dem Barry Miles die Bibel und Antoine de Saint-Exupérys Le petit prince identifiziert hatte; na ja, die Bibel gehörte halt nunmal unabhängig vom Glauben wie der Homer in jeden Haushalt, aber … Dieser Autor als Namenspatron eines Flughafens und dieser Titel als Namenspatron einer Pension rahmten Hans Köberlins Exil quasi ein …


* »He [Peter Occhiogrosso, der Ghostwriter seiner, Zappas, Autobiographie] is a writer. He likes books – he even reads them. I think it is good that books still exist, but they make me sleepy (…) I wouldnʼt want anybody to think I sat around reading Flaubert, Twitchell and Shakespeare all day.« (The Real Frank Zappa Book). Von Flaubert hatte Peter Occhiogrosso als Motto die Weisheit zitiert, man solle regelmäßig und ordentlich im Leben sein, damit man in seiner Kunst gewaltig und originell sein könne.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Freitag, 19. Februar 2016

Mittwoch, der 19. Februar 2014


[141 / 183]
»Ich träumte von einem Arztbesuch, die Praxis war in einem großen Bahnhofsgebäude, vielleicht der Grand Central Station,* und man mußte durch diverse Geschäfte gehen, in denen es Probleme mit der Mafia gab (ich weiß nicht, ob es die russische oder die italienische Mafia war), es ging wohl um Schutzgelderpressung. Dann traf ich den Busenfreund, der gleichfalls zu dem Arzt mußte. Ich war schließlich mit einem mir unbekannten älteren Herrn in dem Blutabnahmeraum, die Sprechstundenhilfe – so ein junges Mäuschen, durch deren eng sitzende dünnstoffige weiße Hose man die Konturen ihres knappen Slips sah und deren Brüste drall in einem knappen weißen T-Shirt steckten – war bei uns beiden zugange und zerstach mir mit der Nadel den Arm bei dem Versuch, das Blut für die Untersuchung abzunehmen. Dann träumte noch, ich sei mit Hehlern unterwegs. Mit dem Anführer (ein früher Kinderfreund?) holte ich an einer Tankstelle das Diebes-gut – Gold und einen wertvollen Teppich – ab.«


* Slapp Happy, Just A Conversation (Sort Of, 1972) …
It was just a conversation
in Grand Central Station one day
Iʼd lost my occupation
Didnʼt have no destination anyway
When it all got too boring
I gave you my shoes
And you left me there with the Barefoot Blues
Ein Fall für die Topographie der Träume (vgl. vom Verf. Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius, Berlin 2013, S. 163ff.): man war einmal dort gewesen und der Ort tauchte immer wieder in den Träumen auf.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Donnerstag, 18. Februar 2016

Notwendige Reduktionen (manchmal)

… schweigen, wo man nichts zu sagen hat; nur das Nötige tun, wo man nichts Besonderes zu bestellen hat; und was das Wichtigste ist, gefühllos bleiben, wo man nicht das unbeschreibliche Gefühl hat, die Arme auszubreiten und von einer Welle der Schöpfung gehoben zu werden! Man wird bemerken, daß damit der größere Teil unseres seelischen Lebens aufhören müßte, aber das wäre ja vielleicht auch kein so schmerzlicher Schaden.

(Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1978, S. 246).

Dienstag, der 18. Februar 2014


[140 / 184]
Lang: »Jeder Film muß eine Idee klar zum Ausdruck bringen.«
Lang: Individuum vs. Schicksal.
STATUEN 1: Odysseus (?), Vorführer, Pallas Athene (Paul), (Lang aus dem Off) Poseidon (Lang: »der Feind des Odysseus«), Frau mit gelben Haaren, Klappe, Paar (?), Prokosch: »I like Gods …«, diverse Statuen, Lang aus dem Off: »Vergessen Sie nicht, nicht die Götter haben den Menschen geschaffen …«,* (Paul aus dem Off) Homer (vergoldet).
Die badende Najade und Prokoschs (mir natürlich sehr verständliche) Freude über die nackte Frau: »Das ist Kunst …«
Paul: »Wer soll das sein?« – Francesca: »Penelope.«


* »Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte.« (Xenophanes, Fragment 15; in: Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, nach der von Walther Kranz hrsg. 8. Auflage, Hamburg 1957, S. 19).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Mittwoch, 17. Februar 2016

Montag, der 17. Februar 2014


[139 / 185]
Im leeren Wintergarten griff er, obwohl er sich gestern über das Gelesene echauffiert hatte, zu Schultzʼ Dokumente der Gnosis und las in Puechs Essay weiter. Es ging diesmal über das Verhältnis der Gnostiker zu dem Phänomen ›Zeit‹. Und er las, was er bereits von seiner Borgeslektüre her kannte: sie erachteten die Zeit – »ihrem Wesen nach Unvollkommenheit« – als Täuschung und entsetzten sich zugleich vor ihr. Und Hans Köberlin erinnerte sich an einen Schlager aus der Zeit seiner präpubertären Kindheit …* Für ihn war die Zeit sein Altern und der dies mitbringende Verfall, den man allerdings durch regelmäßiges Vögeln, Dauerlaufen Fahrradfahren und Schwimmen hinauszögern konnte; dann war seine Zeit hier terminiert, wofür aber die Zeit nichts konnte, sondern bloß er selber. Hans Köberlin versuchte, hier intensiv in der Zeit zu sein, sie zu verdichten, ihren Ablauf zu verlangsamen … schaute man nicht hin, war ratzfatz eine Stunde vorbei, aber es brachte auch nichts, der Uhr beim Gehen zuzuschauen … Beim Vögeln und Onanieren die Ejakulation hinauszögern … Und schließlich war die Zeit ihm das Medium der Musik. – Und wie die Gnostiker den Leib und die Zeit verdammten, so verdammten sie auch die Welt und das irdische Leben, mit der Pointe, daß für sie der Schöpfer nicht auch der Erlöser sein konnte. Das Ganze war, so kam es Hans Köberlin vor, eine gigantische, kosmische Externalisierung des eigenen Unvermögens. »Die Welt ist gut, weil es Frauen gibt, egal wie wenig ich in ihr klarkomme.« – Hans Köberlin las den Essay zu Ende – es ging um das Fremdsein in der Welt, und die Gnostiker wurden von den Stoikern abgegrenzt und mit den Existentialisten verglichen –, las den Essay also zu Ende, um morgen auf S. 55 – Das Geschlechtliche in gnostischer Lehre und Übung, ein Essay von dem Herausgeber Schultz selber – weiterlesen zu können, wobei er endlich auf die monströsen Obsessionen, von denen Bataille gesprochen hatte, zu stoßen hoffte, und er wendete sich anschließend wieder dem bleichen König zu, wo er die dreißig Seiten Bericht über die Ankunft des Autors zuende las, ihm dabei gönnend, wegen einer Verwechslung von Ms F. Chahla Neti-Neti, die geglaubt, diesen Dienst einem für die Behörde wichtigen Mitarbeiter zu leisten, mit zwölfmal rein und raus, wie der Autor zu erwähnen nicht vergaß, einen geblasen zu bekommen, nachdem sie zuvor während der Odyssee durch die Flure pausenlos irgendetwas Unpersönliches, wie er sich mokierte, auf ihn eingeredet hatte.


* … von Barry Ryan aus dem Jahre 1971 …
Die Zeit, die trennt nicht nur für immer Tanz und Tänzer,
die Zeit, die trennt auch jeden Sänger und sei Lied,
denn die Zeit ist das, was bald geschieht.
Die Zeit, sie ist nicht nur für immer Traum und Träumer,
die Zeit, die trennt auch jeden Dichter und sein Wort
denn die Zeit läuft vor sich selber fort.
Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt,
denn er wird niemals alt,
die Hölle wird nicht kalt.
Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt,
denn heute ist schon beinah morgen.
Die Zeit, die trennt nicht nur für immer Sohn und Vater.
Die Zeit, die trennt auch eines Tages Dich und mich,
denn die Zeit zieht den längsten Strich.
Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt … et cetera.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Dienstag, 16. Februar 2016

Sonntag, der 16. Februar 2014


[138 / 186]
Nach dem Dauerlauf – es war sonnig aber windig – und dem Frühstück und dem Duschen setzte Hans Köberlin sich an seinen Tisch im leeren Wintergarten, und um 12Uhr14 – ein gewichtiger Moment in seinem Leben, vielleicht nach seinen schicksalhaften Momenten mit bestimmten Frauen und nach dem Moment seiner Romanpublikation der gewichtigste Moment: »… and first I put my arms around him yes and drew him down to me so he could feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will Yes.« – Und das ›Ja‹ wurde Fleisch …
Nach 1977 und nach 1981 – 1997 war er (wie bei allem im Leben damals) im ersten Drittel steckengeblieben – vollendete Hans Köberlin zum dritten Mal die Lektüre des Ulysses, und er fühlte eine große Leere in sich, er spürte seine Zerrissenheit, die er über der Lektüre vergessen hatte können, es war ihm, als hätte man ihm eine Aufgabe genommen, nämlich die Aufgabe, ein aufmerksamer und liebevoller Leser zu sein, und er hätte am liebsten mit dem Roman gleich wieder von vorne begonnen, an jenem Martello Tower in Sandymount …
Stately, plump Buck Mulligan came from the stairhead, bearing a bowl of lather on wich a mirror and a razor lay crossed. A yellow dressinggown, ungirdled, was sustained gently behind him by the mild morning air. He held the bowl aloft and intoned:
– Introibo ad altare Dei.
»Trieste-Zürich-Paris, 1914-1921.« … und wie Borges in seiner Invocación a Joyce mochte Hans Köberlin ausrufen …
»Soy los que no conoces y los que salvas.«
Sieben Jahre hatte also Joyce daran geschrieben … (er hätte das bei der Siebeneraufzählung in Telos ergänzen können, wenn er daran gedacht hätte):* einmal einen langen Atem haben, sich nicht kirre machen lassen von der Welt (die Frau und die Freunde vertrauten doch seinem diesbezüglichen Talent) … »Die Idee zu meinem Roman hatte ich am heiligen Abend 1988, und zuerst publiziert wurde er kurz vor dem heiligen Abend 2007, wobei ich nicht sagen könnte, ich hätte neunzehn Jahre daran gearbeitet, und wobei ich zu meiner Schande auch nicht sagen könnte, sein Zustand sei lege artis.« – Was das mit dem Frühstück wohl auf sich hatte, das hatte sich Hans Köberlin das ganze letzte Kapitel über gefragt, dann anschließend war er bei Nabokov auf eine plausible Erklärung gestoßen, nämlich daß Mr Bloom der Ansicht sei, sein Wissen um die und seine sillschweigend Duldung der Fortsetzung dieser schmutzigen Geschichte mit Blazes Boylan gebe ihm die Oberhand über Molly. Und auch Nabokov kam, wie auch Thirlwell, zu der Ansicht, Molly liebe Bloom, allerdings mit der Einschränkung, wenn sie überhaupt jemanden liebe. Natürlich hatte Nabokov recht, wenn er schrieb, der sogenannte ›stream of concousness‹ sei eine Kunstform und ein Bewußtsein arbeite nicht so rein sprachlich. Woher er wissen solle, warum er seine Gedanken denke, hatte sich der Protagonist von The Third Policeman gefragt … Hans Köberlin hielt inne und schloß – quasi um sich zu lesen – die Augen (wie Mr Bloom einmal die Augen geschlossen hatte, um sich nach der Begegnung mit dem blinden Klavierstimmer selber in eine Blindheit zu imaginieren und derart die Haut auf seinem Bauch zu befühlen) …: das permanente von einem hohen Ton gekrönte Rauschen des Blutes in seinen Ohren, was die Erinnerung an eine der von John Cage erzählten Geschichten, die er während seiner Indeterminacy-Dauerläufe gehört hatte, evozierte,** Pochen in seinen Schläfen, Schostakowitschs Bratschensonate aus dem Radio in der Küche, irgendwo fuhr ein Auto, der Nachbar – »Der Idiot!« – kam an und hupte, ein Hund bellte und eine Frau schimpfte im hiesigen Idiom, Lichtflecken sobald man die Lider lockerte, Geflacker sogar hinter den geschlossenen Lidern, »als wir auf dem Rückweg der Wanderung durch die Siedlungen von Albir gingen, sahen wir in einem Hof an einem komplizierten und mit Stahlseilen verankerten Gerüst aus Stahlrohren ein Artisten-Trapez hängen … meine Liebste, wenn ich dich jetzt nur spüren und riechen und schmecken könnte« … die Assoziation aus The Pale King: Stoppelfeld – Mädchen, das sich die Achselhöhlen selten rasiert … der seltsame unsichtbare Vogel pfiff seinen seltsamen Pfiff … und die Frau nochmals (nicht als Wort), hier (irrealer Eindruck, gewollt zu wollüstigen Vorstellungen imaginiert), die Hauptstadt (multimediale Erinnerungsfetzen, durchgangene Straßenzüge, Baustellen, Kräne in spätsommerlichen Abendhimmeln …), Geld = Zukunft (nonverbal als Gefühl von Sorge und Bedrückung und Ärger über sich selber), der Krafthorizont, sein ›als-ob‹ … »fucked yes damn well fucked too up to my neck«*** … Finnegans Wake war da wohl näher dran, weil es noch artifizieller als Ulysses war. Beide Werke, Ulysses und noch mehr Finnegans Wake, das empfand Hans Köberlin, wie eben in der Fußnote oben angedeutet, einmal mehr, waren eigentlich große Poeme, die man eher fachkundig rezitiert hören sollte, denn sie für sich und vor sich hin leise zu lesen, sie waren logische Endpunkte ihrer Kunst, die alles übrige zu Zeitvertreib machten …**** Hans Köberlin öffnete seine Augen wieder, schaute vor sich auf das geschlossene Buch und damit auf Jonathan Barrys Gemälde der Halfpenny Bridge, von der er nicht wissen sollte, daß er bereits im nächsten Jahr mit der Frau über sie gehen sollte, und die am Rand des Einbands sich durch den intensiven Gebrauch ablösende Schutzfolie, und er sprang damit von seinem Bewußtseinsstrom, beziehungsweise von der versuchten Imagination eines solchen, ab.
»Was nun?«


* Vgl. vom Verf. Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius, Berlin 2013, S. 148 und dort die Fußnote 456 …?!: 4, 5 und 6, die drei Zahlen, die vor der 7 kommen …
** »There is no such thing as an empty space or an empty time. There is always something to see, something to hear. In fact, try as we may to make a silence, we cannot. For certain engineering purposes, it is desirable to have as silent a situation as possible. Such a room is called an anechoic chamber, its six walls made of special material, a room without echoes. I entered one at Harvard University several years ago and heard two sounds, one high and one low. When I described them to the engineer in charge, he informed me that the high one was my nervous system in operation, the low one my blood in circulation. Until I die there will be sounds. And they will continue following my death. One need not fear about the future of music.« (John Cage, Experimental Music; in: Silence. Lectures and writings by John Cage, Hanover / New England 1961, S. 8).
*** James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 680. Nach seiner Rückkehr sollten Joyce und sein Ulysses-Roman in Hans Köberlins Leben präsent bleiben: er besorgte sich nämlich in der öffentlichen Bibliothek sowohl die kommentierte Ausgabe, von der er, wie vorgenommen, bloß den Kommentar las, als auch den Roman als Hörbuch (eine rund eineinhalb Tage dauernde Lesung) und als Hörspiel (21 Stunden und 32 Minuten). Die hörte er dann während seiner morgendlichen Dauerläufe, zuerst das Hörbuch, dann das Hörspiel und schließlich wieder das Hörbuch. Hinzu kam 2015 Finnegans Wake, über rund einen Tag und fünf Stunden vollständig interpretiert von diversen, Hans Köberlin nicht bekannten, Audiokünstlern (den ersten Teil sollte Hans Köberlin auch am Mittwoch, dem 20. Mai 2015 hören, als er mit Omnibus und U-Bahn zu seiner zweiten Scheidung fuhr), und 2016 das gleiche Projekt noch einmal mit anderen Künstlern. Zuvor natürlich: die selektive – selektiert nach dem I Ging (regulierter Zufall) – Lektüre über seiner Soundcollage von John Cage. Als Krönung dann folgte eine vom 22. Juli bis zum 5. August 2015 dauernde Reise mit der Frau (und auch von ihr größtenteils finanziert) auf James Joyces Herkunftsinsel.
**** »Was man treibt gewinnt mehr und mehr den Charakter des Zeitvertreibs«, hatte Thomas Mann irgendwann in sein Tagebuch geschrieben und hinzugefügt: »Möge er ehrenvoll sein.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Montag, 15. Februar 2016

Hm …

Materie ist viel magischer als das Leben.

(Roland Barthes, Mythen des Alltags, Berlin 2010, S. 196).

À propos …

… zu dem Filmkalenderblatt vom Freitag, dem 15. Februar 2013 …

Samstag, der 15. Februar 2014


[137 / 187]
Aufstehen, Dauerlauf – wieder mit Cassiber –, Frühstück im leeren Wintergarten und Duschen verlief nach dem gewohnten Muster. Es gab keinen Nebel heute, der Himmel war blau, aber es war wieder sehr windig. Nach dem Duschen saß Hans Köberlin mit dem großen Laptop und seinen aktuellen Bücherstapeln im leeren Wintergarten, aus dem Radio kam die Musik, die man auf Radio clásica halt so spielte, und er las, daß Molly Bloom ihre Tage bekam. Und weiter fragte sie sich angesichts ihrer Erinnerung an den Leuchtturm des Europa point: »… will I never go back there again …« Wie oft hatte sich das Hans Köberlin bei den verschiedensten Orten in der letzten Zeit gefragt … sein Leben kam ihm manchmal vor wie ein allgemeines Abschließen, wie die eine eislerische Brechtvertonung bei Cassiber (einmal instrumental und einmal sang Dagmar Krause …),* lauter letzte Dinge, lauter letzte Male ohne die Möglichkeit der Wiederholung, wie sollte das erst bei seiner Rückkehr werden … Hans Köberlins Gedanken wanderten zu einem Gedanken Borgesʼ: wenn Zeit Abfolge sei, dann müsse man einräumen, daß dort, wo eine größere Dichte von Vorgängen existiere, mehr Zeit vergehe, und daß der üppigste Zeitstrom auf der unbedeutenden Seite der Welt fließe. Aber was hieß schon ›mehr Zeit‹? Waren es längere Dauern, um die es ging, oder das Zeitempfinden? Flossen üppige Ströme langsamer als Rinnsale oder kam ihm das jetzt bloß so vor? Und was verstand Borges unter ›Vorgang‹? Ein bedeutsames Ereignis? – Hans Köberlin war zu träge, um den Kontext dieser Bemerkung zu nachzulesen, er streckte die Beine aus, verschränkte die Arme vor seiner Brust und döste eine seiner angenehmen Siestas.**


* Brecht hatte das in seinem Exil Geschrieben …
Und ich werde nicht mehr sehen
das Land, aus dem ich gekommen bin.
Nicht die bayrischen Wälder,
nicht das Gebirge im Süden,
nicht das Meer,
nicht die Märkische Heide,
die Föhre nicht,
noch die Weinhügel am Fluss im Frankenland.
Nicht in der grauen Frühe,
nicht am Mittag,
und nicht, wenn der Abend herabsteigt.
Noch die Städte,
noch die Stadt, wo ich geboren bin.
Nicht die Werkbänke,
und auch die Stube nicht mehr,
und den Stuhl nicht.
All das werd ich nicht mehr sehen,
und keiner, der mit mir ging,
wird das alles noch einmal sehen.
Und ich nicht, und du nicht
werden die Stimmen der Frauen und Mütter hören,
oder den Wind über die Schornsteine der Heimat,
oder den fröhlichen Lärm der Stadt,
oder den bitteren.
** Wir wollen Hans Köberlins wohlige Siesta nutzen, um eine etwas längere Passage aus Thomas Manns Zauberberg (Frankfurt am Main 1986, S. 146ff.), die vielleicht dem entspricht, was Borges meinte, zu zitieren: »Denn er war geduldig von Natur, konnte lange ohne. Beschäftigung wohl bestehen und liebte, wie wir uns erinnern, die freie Zeit, die von betäubender Tätigkeit nicht vergessen gemacht, verzehrt und verscheucht wird (…) Im Grunde hat es eine merkwürdige Bewandtnis mit diesem Sicheinleben an fremdem Orte, dieser – sei es auch – mühseligen Anpassung und Umgewöhnung, welcher man sich beinahe um ihrer selbst willen und in der bestimmten Absicht unterzieht, sie, kaum daß sie vollendet ist, oder doch bald danach, wieder aufzugeben und zum vorigen Zustande zurückzukehren. Man schaltet dergleichen als Unterbrechung und Zwischenspiel in den Hauptzusammenhang des Lebens ein, und zwar zum Zweck der Erholung-, das heißt: der erneuernden, umwälzenden Übung des Organismus, welcher Gefahr lief und schon im Begriffe war, im ungegliederten Einerlei der Lebensführung sich zu verwöhnen, zu erschlaffen und abzustumpfen. Worauf beruht dann aber diese Erschlaffung und Abstumpfung bei zu langer nicht aufgehobener Regel? (…) es ist das Erlebnis der Zeit, – welches bei ununterbrochenem Gleichmaß abhanden zu kommen droht (…) Man glaubt im ganzen, daß Interessantheit und Neuheit des Gehaltes die Zeit ›vertreibe‹, das heißt: verkürze, während Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme. Das ist nicht unbedingt zutreffend. Leere und Monotonie mögen zwar den Augenblick und die Stunde dehnen und ›langweilig‹ machen, aber die großen und größten Zeitmassen verkürzen und verflüchtigen sie sogar bis zur Nichtigkeit. Umgekehrt ist ein reicher und interessanter Gehalt wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkürzen und zu beschwingen, ins Große gerechnet jedoch verleiht er dem Zeitgange Breite, Gewicht und Solidität, so daß ereignisreiche Jahre viel langsamer vergehen als jene armen, leeren, leichten, die der Wind vor sich her bläst, und die verfliegen. Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und unversehens verflogen sein. Gewöhnung ist ein Einschlafen oder doch ein Mattwerden des Zeitsinnes (…) Wir wissen wohl, daß die Einschaltung von Um- und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen (…) Freilich wirkt die Erfrischung des Zeitsinnes dann über die Einschaltung hinaus, macht sich, wenn man zur Regel zurückgekehrt ist, aufs neue geltend: die ersten Tage zu Hause werden ebenfalls, nach der Abwechslung, wieder neu, breit und jugendlich erlebt, aber nur einige wenige: denn in die Regel lebt man sich rascher wieder ein als in ihre Aufhebung, und wenn der Zeitsinn durch Alter schon müde ist oder – ein Zeichen von ursprünglicher Lebensschwäche – nie stark entwickelt war, so schläft er sehr rasch wieder ein, und schon nach vierundzwanzig Stunden ist es, als sei man nie weg gewesen und als sei die Reise der Traum einer Nacht.« – Man entsinne sich, was wir zu Beginn unserer Langzeitdokumentation über die Gewohnheit angemerkt haben, nun: wenn man bei Manns Ausführungen die Akzente nur leicht verschob, beziehungsweise die Perspektive ein wenig veränderte … Und natürlich wollen wir jene Art der Zeitmodulation, die wir oben als ›verdichten‹ bezeichnet haben, nicht vergessen: »richtige Dauern« (Stockhausen) durch das Verfassen von Tagebüchern und Arbeitsjournalen (was bei ihm das gleiche war) und deren Relektüre zu schaffen. Als Hans Köberlin am 8. September 2015 in der Nacht eine solche Relektüre betrieb, dabei Fred Frithʼ Eye to Ear III hörend, las er, daß er am 8. September 2014 (da dagegen um die Mittagszeit) gleichfalls Fred Frithʼ Eye to Ear III gehört hatte.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Sonntag, 14. Februar 2016

Freitag, der 14. Februar 2014


[136 / 188]
Es kam plötzlich eine seltsame atmosphärische Stimmung auf, die ihn an die Stimmung in Flann OʼBriens The Third Policeman – ein Buch das (haben wir das bereits erwähnt?), nebenbei bemerkt, seinen Weg in Hans Köberlins Basisbibliothek gefunden hatte – erinnerte, und ein paar Minuten später hatte ein dichter Nebel alles was weiter als zehn Metern von ihm entfernt lag, vollkommen eingehüllt. Hans Köberlin stieg auf die hintere Dachterrasse und sah hinter den Häuserreihen gegenüber rundum, also seiner Sichtbarkeitsblase, bloß noch einen konturlosen grauen Raum, sogar die Hochhäuser und der Peñòn de Ifach und der Morro de Toix und das Castellet de Calp und die Sierra de Oltà waren verschwunden, als habe der große Manipulator mit seinem Photoshopwerkzeug einfach alles wegretuschiert oder wie bei Welt am Draht, als der die Welt simulierende Rechner abstürzte. Wie hatte man sich das vorzustellen? Hatte jemand, der fünfzehn Meter von Hans Köberlin entfernt auf seiner Dachterrasse stand, auch seine Sichtbarkeitsblase mit zehn Metern Radius?* So, mit Sichtbarkeitsblasen mit zehn Metern Radius im Abstand von fünfzehn Metern, konnte man sich das Universum vorstellen, oder auch das soziale System, manchmal zumindest … – – – Der Wind hatte sich gelegt, jetzt in dem Nebel war es aber zu ungemütlich, um an dem Tisch auf der hinteren Dachterrasse weiter zu lesen und zu schreiben. Seltsam das, Wetter gab es hier, wie er sie noch nie erlebt hatte, und er ging nach einer Weile, in der sich nichts tat und es keine Auflösung ergab, zurück an seinen Schreibtisch in den leeren Wintergarten. Er fühlte sich plötzlich einsam, ohne die Frau in diesem grauen Nichts, was ja kein Nichts mit nichts dahinter war, sondern bloß ein dichter Nebel, etwas vor Etwas.


* In The Third Policeman erfuhr man, de Selby habe behauptet, Nacht sei, entgegen der allgemein akzeptierten Theorien, eine Akkumulation schwarzer Luft (vgl. Flann OʼBrien, Der dritte Polizist, Frankfurt am Main 1991, S. 42f. und dort die Fußnote 4). Hans Köberlin kam dies hier wie eine Akkumulation grauer Luft vor, aber es sollte noch dicker kommen, siehe unten).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Samstag, 13. Februar 2016

Die Kirche im Dorf lassen

Das Christentum ist der Hauptlieferant des Tourismus.

(Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 2010, S. 158).

Donnerstag, der 13. Februar 2014


[135 / 189]
Ein weiterer Tag, wie immer, also wie er ihn gewollt hatte …
Und Edmond hatte heute vor 127 Jahren seine Tischgenossen bei Charpentiers charakterisiert …
Bauër, vom Echo de Paris, ein dicker Sanguiniker, mürrisch, borniert und anständig. Madame Clovis Hugues, eine beängstigende Schönheit, eine mörderische Schönheit, eine Frau, die als Klytaimnestra engagiert gehört. Becque, mit Bürstenschnitt, großen hervortretenden Augen, einer lebhaften, angeregten, scherzhaften Physiognomie, der Kopf eines Sängers im Caféconcert, die Visage eines weinseligen Spaßvogels, die Züge eines Hanswursts auf dem Podest einer Jahrmarktsbude.
Hans Köberlin konnte die Gestalten nach diesen knappen Angaben imaginieren, besonders die potentielle Gattenmörderin, die »mörderische Schönheit« imaginierte er sich sehr detailliert, dabei freilich über die gemachten Angaben hinausgehend …: Brüste und Möse und Schenkel einer mörderischen Frau … Madonna, Body of Evidence (1993)* … das Gesicht einer mörderischen Frau … Da viel Hans Köberlin eine Studie Peter von Matts über literarische Portraits, die nicht den Weg in seine Basisbibliothek gefunden hatte, ein, und aus der einen Passagen, der weniger das Thema betrafen als eine ästhetische Entwicklung, der auch er nachzukommen versuchte (und wir natürlich versuchen): das »Nachdenken über das Erzählen während des Erzählens, Reden über die poetische Arbeit in deren Vollzug selbst …«**


* Ihren Gatten Clovis tötete Jeanne Royannez – die Madame Hugues – nicht, aber 1884 erschoß sie im Justizpalast den Literaten Morin, und sie schaffte es, vom Gericht im darauffolgenden Jahr freigesprochen zu werden.
** Peter von Matt, … fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, Frankfurt am Main 1989, S. 236f. An dieser Stelle findet sich auch eine berechtigte Kritik an den Kritikern des (post-)modernen Romans, die wir bei unserer Apologie im Prolog hätten anführen können: »Vom Erzähler E. T. A. Hoffmann laufen mehrfache Linien über ein Jahrhundert hinweg zu den modernen Autoren. Zu ihnen gehört die Kultur des Nachdenkens über das Erzählen während des Erzählens, des Redens über die poetische Arbeit in deren Vollzug selbst (…) Damit entdeckt und definiert sich die berichtete Welt als eine konstruierte. Das Erzählen wird von einem Medium, das gesicherte Wirklichkeit vermittelt, zu einer Tätigkeit, in der eingestandenermaßen etwas aufgebaut und angefertigt wird. Was so bei Hoffmann begonnen hat (…), das kann im modernen Erzählen zur großen Konstitutionsregel werden. Da schimmert dann die Tätigkeit des Erzählers nicht nur da und dort in der erzählten Szenerie auf, sondern sie ist ebensosehr durchgezogener Gegenstand des Berichts wie die Geschichte / Fabel / Story selbst. Man pflegt solches ein ›Spiel‹ zu nennen, dort ein romantisches, hier ein avantgardistisches, und unterstellt damit, daß die betreffenden Autoren eines Tages schon wieder zum ›richtigen Erzählen‹ zurückkehren würden. In Wahrheit aber bewegt dieses angebliche Spiel meist der höhere ›Ernst‹ als die richtig und tüchtig erzählten Schicksalsläufe nach vertrauten Mustern. Das ›soli-de Erzählen‹, wie es eine zwischen Treuherzigkeit und Arroganz schwebende Kritik und eine mit den ›berechtigten Wünschen unserer Leser‹ vertraute Verlegerschaft fordern und fördern, ist in Wahrheit dem mechanistischen ›Spiel‹ näher, als es selbst je zugeben würde. Denn es operiert mit längst ausprobierten Erzählmustern und gewinnt seine Effekte allein über das ungewohnte Zusammensetzen gewohnter Teile.« (ebd.). Das war als es geschrieben wurde, nämlich im Jahre 1983, bereits ein alter Hut, und es ist bedenklich, daß man es gut 30 Jahre später immer noch zitieren muß.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Freitag, 12. Februar 2016

Mittwoch, der 12. Februar 2014


[134 / 190]
Als seine Zeit dann gekommen war, ging er auf dem Weg, der ihn höher an der Steilküste herauskommen ließ, zum Strand. Dies war für gewöhnlich sein nach dem Dauerlauf zweiter Ausgang am Tag, in der kommenden Schwimmsaison, die allerdings länger auf sich warten lassen sollte, als Hans Köberlin gehofft hatte, sollten es mehr Ausgänge geben. Der Himmel war blau und der Wind blies stetig, undenkbar war ihm eine Zeit, in der andere Wege gegangen würden … (und doch sollte es so kommen). Als er die Playa La Fossa-Levante erreichte, zog er seine Schuhe aus, krempelte seine Hosenbeine hoch und lief den ganzen Strand entlang durch die anrollenden Wellen. Es würde noch ein paar Wochen der wärmenden Sonne brauchen, dachte er sich, bis man mehr wagen könnte, obwohl die unerschrockenen – »schmerzfreien«, wie Carlos Metafoía die angelsächsischen genannt hatte – Schwimmer immer häufiger zu sehen waren. Am Ende der Playa, am Fuß des Peñón de Ifach also, setzte er sich auf das Promenadenmäuerchen, ließ seine Füße in der Luft trocknen und rieb dann denn Sand an seinen Hosenbeinen ab, bevor er Socken und Schuhe wieder anzog. Ab jetzt würde er immer ein Handtuch in seinem Rucksack haben, nahm er sich vor. Über die Promenade dann flanierte er, sein dort Ankommen lustvoll hinauszögernd, zur ›Tango Bar‹, man konnte noch einen Moment auf der Terrasse sitzen und einer der Kellner brachte ihm unaufgefordert ein Glas Rotwein nebst einer Schale mit Nüßchen, sehr schön das, um die blaue Stunde war um diese Jahreszeit kaum jemand unterwegs, auch das, die melancholische Leere, sehr schön. Und Hans Köberlin mußte einmal wieder an den Hilfsbuchhalter Bernardo Soares denken …* Es gab anschließend noch das ein oder andere im ›Consum‹ – auf dessen C er in einem Traum vom Montag, dem 13. Januar 2014, mit einem Präzisionsgewehr geschossen, wie er sich jetzt wieder erinnerte – zu besorgen, er erledigte das, während die Sonne wieder einmal spektakulär hinter dem Morro de Toix, dem Castellet de Calp und der Sierra de Oltà unterging.


* »Wie anders ist die Seele eines Menschen, der das Kommen der Nacht betrachtet. Ungewiß und allegorisch gehe ich weiter, unwirklich wahrnehmend. Ich bin wie eine Geschichte, die jemand erzählt hat, so gut erzählt, daß sie Fleisch geworden ist zu Beginn eines der Kapitel dieses Romans, der die Welt ist: ›Zu dieser Stunde konnte man einen Mann sehen, der langsam die Straße entlangging …‹« (Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 186).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Donnerstag, 11. Februar 2016

Dienstag, der 11. Februar 2014


[133 / 191]
Als Hans Köberlin nach dem Erwachen sein Traum niederschreiben wollte,* da mußte er feststellen, daß der Akku seines kleinen Laptops leer war, obwohl der Laptop an die Steckdose angeschlossen war. Dann merkte er, daß es sich um einen Stromausfall handelte. Er zog sich seinen Kimono über und stieg auf die Dachterrasse, doch an den Strommasten am Haus und an denen, die er in der Nachbarschaft sehen konnte, war nichts von einer Störung zu sehen. Er absolvierte schließlich in der Hoffnung, daß bei seiner Rückkehr wieder alles funktionieren würde – so sollte es dann auch sein –, unter einem bedeckten Himmel seinen Dauerlauf.


* »Ich träumte von einem unaussprechbaren, unlesbaren und sinnlosen Wort, und obwohl das Wort unaussprechbar, unlesbar und sinnlos war, war es keine zufällige Buchstabenansammlung. Das war unheimlich.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Mittwoch, 10. Februar 2016

Montag, der 10. Februar 2014


[132 / 192]
… eine Zäsur also stellte auch der – außerdiegetische – Umstand dar, daß wir ab diesem Stand der Niederschrift unserer Langzeitdokumentation nicht mehr wie bisher Hans Köberlin im Mediterranen – das folgende metaphorisch natürlich bloß gesprochen (Hans Köberlin hat uns in unserer Funktion – und da geben wir unser Wort drauf! – niemals bewußt wahrgenommen!) – unmittelbar über die Schulter blicken können (auch natürlich deshalb bloß metaphorisch gesprochen, weil: wie sollte man selber schreiben, wenn man gleichzeitig dem zu Beschreibenden, der seinerseits selber schrieb, über die Schulter sah?!) und dabei stante pede festhalten, was wir da, auf der anderen Seite der Schulter, sehen, sondern daß wir fern von Hans Köberlin im unwirtlichen Norden und allein und auf uns gestellt und allein gestützt auf Dokumente und Bilder und sonstige mittelbare Informationen, als da wären aufgeklaubte Muscheln und Steine, Tickets, Broschüren aus Touristenbüros, Kassenbons, Visitenkarten, Zuckerpäckchen aus Cafés und Bars …, unsere Langzeitdokumentation abfassen müssen. Unsere Zäsur ist also ein Perspektivwechsel, und zwar ein fataler Perspektivwechsel … Thomas Mann hatte im Zauberberg geschrieben, »das (die Tatsache daß eine Geschichte vergangen sei) wäre kein Nachteil für eine Geschichte, sondern eher ein Vorteil; denn Geschichten müssen vergangen sein, und je vergangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigenschaft als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts.«* Aber Hans Köberlins Geschichte war da noch nicht vergangen und ist es auch jetzt noch nicht, wo wir hier im ungemütlichen Norden sitzen und unseren Imperfekt raunen. Noch drehte sich die Welt, wenn auch nicht um ihn, um Hans Köberlin …


* Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt am Main 1986, S. 9. Eine weitere wichtige Anmerkung, das Erzählen betreffend, ließ Mann seinen Erzähler Dr. phil. Serenus Zeitblom im Doktor Faustus machen: »Ich weiß nicht, warum diese doppelte Zeitrechnung (die der Zeit des Erzählens und die erzählte Zeit) meine Aufmerksamkeit fesselt, und weshalb es mich drängt, auf sie hinzuweisen: die persönliche und die sachliche, die Zeit, in der der Erzähler sich fortbewegt, und die, in welcher das Erzählte sich abspielt. Es ist dies eine ganz eigentümliche Verschränkung der Zeitläufe, dazu bestimmt übrigens, sich noch mit einem Dritten zu verbinden: nämlich der Zeit, die eines Tages der Leser sich zur geneigten Rezeption des Mitgeteilten nehmen wird, so daß dieser es also mit einer dreifachen Zeitordnung zu tun hat: seiner eigenen, derjenigen des Chronisten und der historischen.« (Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Frankfurt am Main 1986, S. 335). Unsere Leserinnen und Leser werden den Vorteil haben, sich nicht mit der historischen Zeit auseinandersetzen zu müssen, zumindest nicht mit der Zeit der sogenannten großen Historie.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Dienstag, 9. Februar 2016

Sonntag, der 9. Februar 2014


[131 / 193]
Als er angekommen, machte er gleich eine Flasche Wein auf und ging mit dem Glas in der Hand durch beide Wohnungen des Hauses, zog Rolläden hoch, öffnete zum Lüften Türen und Fenster und öffnete wieder die Gas- und Wasserhähne, packte dann seine kleine Ledertasche aus: die Badutensilien ins Bad, die schmutzige Wäsche in den Raum mit der Waschmaschine, die Bücher und die Cassiber-Box auf den Schreibtisch (striptease table …) und den Zitatenkalender hängte er an den Nagel, von dem er zuvor den Filmkalender mit dem Tagesblatt vom 31. Dezember 2013 – man erinnere sich: Gudrun Landgrebe in Robert van Ackerens Die flambierte Frau (1983) – abgenommen hatte, dann ging er auf beide Dachterrassen und prostete der Umgebung, den Nachbarhäusern, dem komischen Vogel, der prompt seinen seltsamen Pfiff pfiff, dem Peñón de Ifach, dem Meerhorizont zwischen den Hochhäusern, Morro de Toix & Castellet de Calp und schließlich der Sierra de Oltà zu. Dies war sein drittes Ankommen, kam es ihm in den Sinn … jetzt bereits ein Ankommen ins Vertraute, ein Heimkommen …; eine Ankunft würde wohl noch folgen (nach dem Besuch der Frau anläßlich deren Geburtstag), und dann … und dann sollte alles auch schon wieder vorbei sein … Hans Köberlin konnte sich das nicht vorstellen, obwohl er seine Rückkehr nun nicht mehr so völlig perspektivlos imaginierte. Als er dann später aus dem Haus ging, hatte er bereits mehr als eine halbe Flasche Wein intus. Jene Verse Borgesʼ in memoriam A. R. (= Alfonso Reyes) fielen ihm ein …
Supo bien aquel arte que ninguno
Supo del todo, ni Simbad ni Ulises,
Que es pasar de un país a otros países
Y estar íntegramente en cada uno.
Nein, zu seinem Bedauern mußte sich Hans Köberlin eingestehen, daß auch er nicht, wie auch nach Borges Sindbad nicht und auch Odysseus nicht, es geschafft hatte, ganz bei der Frau gewesen zu sein und es jetzt nicht schaffte, ganz hier zu sein. Das Optimum in der Hinsicht wurde erreicht, wenn er hier war und die Frau hier war, das war artgerechte oder gar artfördernde Haltung, die Alternative dazu wäre ewiges Reisen, Benjamins Leben im Hotel und das Leben als Roman. Er kam allerdings, so sagte er sich (sicher nicht zu unrecht), dem Ganzhiersein sehr nah, so nah wie noch nie einem solitären Ganzirgendwosein zuvor in seinem Leben.*


* Später, viel, viel später, am Mittwoch, dem 27. Mai 2015, sollte der Busenfreund ihn fragen, ob denn das Sein im Mediterranen mit den vier bis fünf Begegnungen im Jahr mit der Frau nicht sein idealer Modus sein könne.
»Nein, das – das sage ich jetzt natürlich a posteriori – funktionierte bloß über die begrenzte Dauer. Unterminiert müßte ich … würde ich wohl …«
»Sag es!«
»Ich müßte etwas anfangen, was ich eigentlich nicht will, weil ich die Frau liebe … etwas anfangen zum Vögeln …«
»Ok, das wollte ich hören, du bist noch gesund.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014).

Montag, 8. Februar 2016

»… our strength comes from our uncertainty.«

Spider Barbour: We can get our strength up by making some music.
All-Night John (Kilgore): Thatʼs right.
Monica Boscia: Yeah … yeah.
John: But the thing is, you know what?
Spider: What?
John: We donʼt even understand our own music.
Spider: It doesnʼt, does it matter whether we understand it? At least itʼll give us … strength.
John: I know but maybe we could get into it more if we understood it.
Spider: Weʼd get more strength from it if we understood it?
John: Yeah.
Spider: No, I donʼt think so, because — see I think, I think our strength comes from our uncertainty. If we understood it weʼd be bored with it and then we couldnʼt gather any strength from it.
John: Like if we knew about our music one of us might talk and then that would be the end of that.

(Frank Zappa, Civilization Phaze III, 1994).

Samstag, der 8. Februar 2014


[130 / 194]
Die Mischung aus Wald und Park war eine Hans Köberlin angenehme Gegend, durch deren noch kahle Bäume die jahreszeitlich und tageszeitlich blasse Nachmittagssonne ein melancholisches Licht verbreitete, das der Stimmung unserer Liebenden an ihrem letzten gemeinsamen Tag entsprach. Die Frau zeigte Hans Köberlin den Kletterturm, an dem sie sich mittwochs nach Feierabend, wenn Jahreszeit und Wetter es zuließen, mit Gleichgesinnten traf, um ihrer vertikalen Leidenschaft zu frönen (sonst, wenn Jahreszeit und Wetter es nicht zuließen, traf man sich in einer Kletterhalle). Dann setzten sie sich in das Lokal des Hallenbads und aßen Currywurst mit Pommes frites und tranken dazu ein Glas Rotwein die Frau und zwei Gläser Rotwein Hans Köberlin und schauten durch eine gläserne Wand dem üblichen Treiben im Wasserbecken mit seiner spezifischen Geräuschkulisse zu.*


* Hans Köberlin erinnerte sich, daß der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares einmal von einem kurzen, dunklen Schatten eines städtischen Baumes geschrieben hatte und von leichtem Wasserplätschern in ein tristes Becken und von einem öffentlichen Park bei anbrechender Dämmerung, daß dies in jenem Augenblick das gesamte Universum für ihn gewesen sei, denn diese Dinge hätten sein bewußtes Wahrnehmen ganz und gar in Besitz genommen; und daß er vom Leben nicht mehr wahrnehmen mochte, als wie es sich in diesen unvorhersehbaren Nachmittagen verliere zum Geschrei fremder Kinder, die in Parks wie diesem spielten, eingezäumt von der Melancholie der sie umgebenden Straßen, und jenseits des hohen Geästs der Bäume die Kuppel des alten Himmels, an dem die Sterne wiederaufflammten (vgl. Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 114).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014).

Sonntag, 7. Februar 2016

Freitag, der 7. Februar 2014


[129 / 195]
Das Essen war wie gewohnt gut, man trank zwei Liter Rotwein und anschließend, nach dem Dolce, noch einen Espresso, zu dem Hans Köberlin wie gewohnt einen Brandy nahm.
Beim Abschied gab der Busenfreund seinen ambivalenten Gefühlen Ausdruck: er vermisse Hans Köberlin sehr, aber freue sich für ihn, daß er dort unten so sein könne.
»Wir, die Lieben, die Freunde, sind alle wie oder als wären wir aus Jean Paul«, zitierte Hans Köberlin Clemens Limbularius.
Die Rückfahrt verlief so angenehm wie die Hinfahrt, man freute sich allerdings, als man wieder in der wohlbeheizten Wohnung war. Zur Verdauung des üppigen Mals schauten sie sich die Wiederholung einer alten – und schlechten* – Tatort-Episode an,** dann las man noch ein wenig im Bett, Hans Köberlin schlug noch einmal willkürlich den Echtermeyer auf …
Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten
Und die beringten Hände auf der Flut
Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten
Des großen Urwalds, der im Wasser ruht.***
Kein Zweifel, man befand sich im Expressionismus. Hans Köberlin erinnerte sich, wie er sich als Kind bei Hochwasser einen Spaß daraus gemacht hatte, mit seiner Schreckschußpistole, die er dazu ausnahmsweise außerhalb der Karnevalszeit benutzen durfte, die Wasserratten in den Flußauen zu erschrecken. Als Kind … Wie hieß es noch in Wendersʼ und Handkes Himmel über Berlin (1987) …?


* Der marxistische Literaturtheoretiker Fredric Jameson soll irgendwo geschrieben haben, etwas Adäquates über das Fernsehen herausfinden zu wollen, könne nur zur Folge haben, daß man es ignoriere und über etwas Anderes nachdenke.
** »Tatort: Borowski und der freie Fall (2012) – Ich habe diese Episode zum ersten Mal an meinem letzten glücklichen Sonntag mit Diotima gesehen, bin diesmal – aber nicht deswegen – gnadenloser in meinem Urteil: soetwas funktionierte – wie auch der 9/11-Fall, den sie einmal aus in der Stadt bei den Mönchen oder in der Hauptstadt gebracht hatten – nicht. Es ging also um Verschwörungstheorien im Fall Uwe Barschel, am Ende ging es aber doch bloß um die Angst um die eigene Karriere. Die eigentlich doch ganz sympathische Assistentin hatte eine undankbare Rolle als naive Hysterikerin. Man fragte sich, wieso die Hinterbliebenen Barschels erlaubt hatten, die Geschichte für einen Krimi zu verbraten. Vielleicht war es der Witwe sogar recht gewesen.«
*** Georg Heym, Ophelia (1911); in: Echtermeyer. Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Elisabeth K Paefgen und Peter Geist, Berlin 19. Aufl. 2006, S. 474.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014).

Samstag, 6. Februar 2016

Donnerstag, der 6. Februar 2014


[128 / 196]
Am Donnerstag, dem 6. Februar 2014, wäre François Truffaut 82 Jahre alt geworden.* Er sei vielleicht tot und er, Godard, lebe vielleicht noch, hatte jener in seinem Vorwort zu einer Ausgabe von Truffauts Briefen, in der auch ihr Zerwürfnis dokumentiert wurde, geschrieben … Gerne hätten wir auch hier mit einer längeren Fußnote gedient, denn Hans Köberlin hatte 1998 und 1999 eine komplette Retrospektive von Truffauts Œuvre vorgenommen, doch die Aufzeichnungen aus dieser Zeit sind leider nicht erhalten. So bleiben uns nur einige verstreute Bemerkungen und einige singuläre Revisionen …


* Es gab wie zu Truffauts Todestag am 21. Oktober ein Filmkalenderblatt mit einem Still aus Jules et Jim (1962) – schon wieder! wir gewinnen langsam den Eindruck, daß dies der meistabgebildete Film in all den Kalenderjahren, die Hans Köberlin archiviert hatte, ist – und es gab eines aus Le dernier métro (1980) und es gab eines mit ihm selbst und seinem wilden Zögling (Jean-Pierre Cargol) aus Lʼenfant sauvage (1969).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014).

Freitag, 5. Februar 2016

Chaplin à la Brecht

Sehen, wie einer nicht sieht, ist die beste Art und Weise, intensiv zu sehen, was er nicht sieht …

(Roland Barthes, Mythen des Alltags, Berlin 2010, S. 51).

Mittwoch, der 5. Februar 2014


[127 / 197]
Am Mittwoch, dem 5. Februar 2014, da gab es bloß ein Filmkalenderblatt aus dem Jahre 1997, das anläßlich des Geburtstags des Komponisten Bronislaw Kasper (geboren im Jahre 1902) ein Still mit Leslie Caron und Jean-Pierre Aumont aus Charles Walters Musical Lili (1953) zeigte.* Und Hans Köberlin notierte sich nach dem Erwachen folgende Träume: »Es gab einen Bandenkrieg zwischen verschiedenen, ethnisch sortierten, Banden (wahrscheinlich wegen des Gespräches mit dem Geschäftsführer des Etablissements für Ausziehtanz, vor ein paar Wochen oder gar schon Monaten, über den Aufsatz im Merkur über den Grad der operativen Schließung von Banden als Indikator für das Funktionieren von Demokratie), ein Bandenkrieg also, in dem ziemlich grausame Folter- und Tötungsmethoden – auch mit Strom und Wasser (Le petit soldat, 1963, Pierrot le Fou, 1965) – zur Anwendung kamen. Meine Sympathie hatte die Chefin einer chinesischen Triade (so heißen die doch, glaube ich). Dann, in einem anderen Traum, tauchte N___ wieder auf. Er saß auf dem Rücken von jemand anderem und hätte uns (?) sehen müssen, sah uns aber erst, als wir massiv auf ihn einredeten. Das alles passierte im Freien. Dann, in einem dritten Traum, gab es in strahlendem Sonnenschein (auf der Promenade meines Exils?) das Wiedersehen mit einem homosexuellen Paar. Ich machte Bilder mit einem Taschentelephon und hatte ein edles Gemüse gekauft, das ich zur Feier des Tages in einer Pfanne in Olivenöl briet. Was dabei herauskam war aber so wenig, daß wir noch Brot, Wurst und Käse auspackten.«


* Wir zitieren aus Hans Köberlins Arbeitsjournal vom Samstag, dem 8. September 2012: »Mit Anleihen an The Wizard of Oz (1939), vor allem in der Traumszene vor dem happy end, die Geschichte der Frau – hier eines Mädchens – zwischen zwei Männern, archetypisch: zwischen dem Charmeur, der alle haben konnte, und dem gebrochenen Melancholiker (daß Lili sich den gehbehinderten Mann in einer Tanzszene (!) imaginierte, war typisch Frau). Der ganzen Anlage nach wurde das Thema nicht dramatisch, sondern komödiantisch-poetisch verhandelt. Außerdem war es die Geschichte eines Mädchens, das erwachsen wurde und sich in der schwierigen postpubertären Übergangszeit an die Puppen hielt, die ihre Welt (die zwei Männer, die Frau des Charmeurs und der gutmütige Trottel) repräsentierten, wie sich ja auch Dorothys irreale Begleiter während ihrer präpubertären Initiation in Oz aus dem Personal ihrer Umwelt rekrutierten.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014).

Donnerstag, 4. Februar 2016

Dienstag, der 4. Februar 2014


[126 / 198]
Und Edmond heute vor 120 Jahren (das klang nach einer kurzen Spanne, wenn man die beiden Welten nebeneinanderstellte) …
Sonntag, 4. Februar – Das kleine Hausmädchen, das Blanche für kurze Zeit ersetzt hat und das uns nun wieder verläßt, sagte zu Pélagie: »So viel ist sicher, ich werde mir eine Stelle bei einer Kokotte suchen … Dort arbeitet man wenig, dort ißt man gut und man hat die Chance, ins Theater oder ins Seebad mitgenommen zu werden!«
Toudouze, dem ich von Maries Vorhaben erzählte, sagte: »Vor zwei Jahren hat sich eine bei mir vorgestellt, der man nach getroffener Abmachung, sagte: ›Und außerdem schlafen Sie an den Tagen, an denen wir abends ausgehen, im Haus. Ich will nicht, daß mein Junge – der noch ein Kind war – allein bleibt.‹ Sagt da nicht das kleine Hausmädchen, als es mit einer Frau, die uns aushilft, wenn wir ohne Dienstboten sind und die uns sehr ergeben ist, die Treppe hinunterging, sagt es da nicht: ›Ich glaube, ich werde mit ihnen auskommen, es scheinen gute Leute zu sein. Es gibt zwar die Bedingung, in der Wohnung zu schlafen, die ein Ärgernis ist, aber ich werde mit dem Sohn schlafen!‹«*
Eine immer wieder auftauchende aber natürlich unwiderruflich unrealisierbar gewordene Phantasie Hans Köberlins war, bei dem allerersten knabenhaften Erwachen des Geschlechts von einem jungen, sinnlichen Dienstmädchen in die ars amatoria eingeführt zu werden …


* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 11, S. 32f. In dem gleichen Eintrag befand sich noch eine interessante Ansicht Daudets, nach der die Ausdrucksweise der Leute mit der Natur ihrer Begabungen zusammenhänge. So sagten Leute, die die Gabe der Wahrnehmung der Dinge besäßen, immer »Sehen Sie das?«, während diejenigen, die nicht pictural seien und die Dinge mehr mit dem Verstand als mit der Wahrnehmung erfaßten, »Verstehen Sie das?« sagten (vgl. ebd., S. 33).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014).

Mittwoch, 3. Februar 2016

Warum neben meinem WC ein Bleistift liegt

… man ist Schriftsteller, so wie Ludwig XIV. König war, selbst auf dem Nachtstuhl.

(Roland Barthes, Mythen des Alltags, Berlin 2010, S. 39).

Montag, der 3. Februar 2014


[125 / 199]
Anschließend putzte er sich ausgiebig die Zähne und legte sich wieder ins Bett, wo ihn ein Sortilegium im Echtermeyer zu folgendem enigmatischen Distichon von Novalis führte …
Ist es nicht klug, für die Nacht ein geselliges Lager zu suchen?
   Darum ist klüglich gesinnt – der auch Entschlummerte liebt.
Die Klugheit eines (einer bestimmten Ausprägung des) geselligen Nachtlagers war Hans Köberlin evident, aber meinte Novalis mit »Entschlummerte« Schlafende (die Schlafende neben einem) oder Tote?*
Irgendwann erwachte die Frau, man vögelte, frühstückte und fuhr dann mit dem Auto der Frau zum Müggelsee, um einen Spaziergang zu machen. Die Frau wollte unbedingt die Eisfläche betreten, doch am See blies ein derart kalter Wind, daß man das Unternehmen nach wenigen Metern abbrach.** Anschließend besuchte man eine kranke Freundin der Frau in ihrer Wohnung, trank einen Tee dort und versprach, am nächsten Tag für sie Briketts zu besorgen.


* Das DWB (Bd. 3, Sp. 608f.) zitierte in dem betreffenden Lemma als einen Beleg Klopstock mit der Bemerkung, die zitierte Passage sei »seltsam«, was auch Hans Köberlin fand: »einige deiner nachkommen werden entschlummern, einige sterben, aber du sollst des todes sterben.« Die Grimms erklärten diese Reihung mit »leichten und schweren tod bezeichnend.«
** Borges zitierte ein altes chinesisches Sprichwort, nachdem es besser sei, im Nacken den Eishauch des Winters zu spüren als den warmen Atem eines rasenden Elefanten (vgl. Jorge Luis Borges, Von Büchern und Autoren. Rezensionen, Essays, Biogramme 1936-1939; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1993ff., Bd. 4, S. 324).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014).

Dienstag, 2. Februar 2016

Sonntag, der 2. Februar 2014


[124 / 200]
Der Sonntag, der 2. Februar 2014, war, wie Hans Köberlin in drei Tagen von dem entsprechenden Blatt des dann erstandenen Zitatenkalenders erfahren sollte, der Geburtstag von James Joyce (*1882).* Das Blatt zitierte zu diesem Anlaß eine von einem Hans Köberlin unbekannten Fritz Senn ausgewählte Passage aus Finnegans Wake, die wir hier wiedergeben wollen …
All moan day, tears day,
wails day, shatter day till
the fear of the Law.
How good are you in
explosition? How farflung
is your folkloire and how
velktingeling your
volupkabulary?
»volupkabulary« gefiel Hans Köberlin natürlich, das Vokabular des sinnlich-fleischlichen Begehrens (nackt …) sollte sein Vokabular sein, handfest der Arsch und die Brüste, nicht so idealistisch wie bei Novalis … Gegen zehn Uhr erwachte er neben der noch schlafenden Frau in deren Bett in der Hauptstadt im Bezirk des Hauptmannes. Er konnte sich an drei Träume mit längeren Traumerlebnissen erinnern, in zweien davon ging es um selbstreferentielle Schleifen ähnlich der, die wir im nächsten Kapitel bezüglich Hans Köberlins Aktivitäten erwähnen, eines dieser Erlebnisse war an der Promenade seines Exils angesiedelt …


* Es gab zwei Filmkalenderblätter, das eine zeigte eine Hans Köberlin nicht bekannte Schauspielerin mit dem unmöglichen Namen Ossi Oswalda (*1897), das Hans Köberlin bloß aufgehoben hatte, weil sie in ihrer Unterwäsche lieblich anzusehen war, und John Hurt in Lynchs The Elephant Man, wie er verhüllt aber dennoch angestarrt von Bord eines Schiffes ging.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014).

Montag, 1. Februar 2016

Samstag, der 1. Februar 2014


[123 / 201]
Nach dem Frühstück machten sie einen kleinen Spaziergang. Spree und Dahme waren zugefroren und schneebedeckt. Hans Köberlin kannte den Bezirk bloß aus den Sommermonaten und sah nun wegen der laublosen Bäume und der Schneeflächen manches anders. Es war so um den Gefrierpunkt und man hatte den Eindruck, daß es bald tauen würde. Hans Köberlin hatte gehofft, einen Ausflug mit dem Fahrrad machen zu können, aber dafür war es ihm nun doch zu kalt. Er erinnerte sich, wie ein Physiklehrer seiner Kindheit die sogenannte Anomalie des Wassers teleologisch erklärt hatte: gäbe es sie nicht, hätte das Wasser seine größte Dichte nicht bei +4 °C, würde es also bei abnehmender Temperatur immer dichter und ergo schwerer, dann sänke das Eis an den Boden der Gewässer, taute dort nicht, sondern kumuliere zu einem ewigen Frost, der alles Wasser und schließlich die Erde gefrieren ließe und alles Leben unmöglich mache: also gebe es die Anomalie des Wassers, damit es Leben geben könne … Und dazu, zu dem Physiklehrer, der der Lehre seines Leibnizʼ geglaubt und der, nur nebenbei bemerkt, eine äußerst entzückende Tochter gehabt, mit der Hans Köberlin ein paarmal im Kino gewesen – unter anderem in Fassbinders Despair (1978) und Wolf Gremms Die Brüder (1977) – und bei der er (Hans Köberlin der Trottel!) nie zu landen versucht hatte, dazu also fiel Hans Köberlin die Frostarie des Cold Genius aus Purcells King Arthur ein …*


* Populär geworden dadurch, daß RTL während der Anfänge des hiesigen Privatfernsehens sie in der Interpretation von Klaus Nomi zum Sendeschluß (man erinnere sich, daß es solches einst gegeben) gespielt hatte …
What power art thou, who from below
Hast made me rise unwillingly and slow
From beds of everlasting snow?
Seeʼst thou not how stiff and wondrous old,
Far unfit to bear the bitter cold,
I can scarcely move or draw my breath?
Let me, let me freeze again to death.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XI [Erstes Intermezzo – oder: Zäsur], 31. Januar bis 9. Februar 2014).