Freitag, 16. Oktober 2015

Mittwoch der 16. Oktober 2013


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Nach dem Frühstück ordnete er die Fragmente des verfluchten Kapitel XX von Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius. Nach dem was er da las, schloß er aus unserem Kenntnisstand über sein weiteres Schicksal ganz richtig, daß wir im vergangenen Dezember des vergangenen Jahres das Handtuch geworfen* und uns abgesetzt hatten. Er staunte, wie ungerührt er das lesen konnte. Um Lysa zu schonen, milderte er einige Passagen ab und entfernte sogar manches. Aber er wollte das da nicht so trostlos stehen lassen und hatte eine Idee …
Er hatte bei seiner gründlichen Inspektion aller Teile des Hauses und des Grundstücks in der Garage einen noch ungeöffneten Eimer dunkelbrauner Fassadenfarbe und Pinsel in diversen Größen vorgefunden, er ging nun also die Treppe hinunter zu der Garage, schloß sie auf (›Logo‹ stand, wie gesagt, auf dem betreffenden Schlüssel), holte den Eimer mit der Farbe, suchte sich den dicksten Pinsel und schrieb an die weiße Wand zu der oberen Straße hin …

¡Hans Koberlin vive!

Er dachte im letzten Moment daran, die Punkte des Umlauts in seinem Namen wegzulassen, denn Punkte machte man hier nicht auf die Buchstaben, bloß Striche und Wellen.** Dann nahm er sein Taschentelephon, photographierte die Wand mit jener Formel, die Wolfram Gans nun seit mehr als zwei Jahrzehnten in seiner Landesnervenklinik unablässig wiederholte … er, Hans Köberlin, könnte ja einen Essay schreiben: ›Wolfram oder die Formel‹ … hatte er eigentlich etwas von Deleuze in seine Basisbibliothek aufgenommen? Es wäre sträflich, wenn nicht …
»Ich muß unbedingt die Bände bibliographieren, damit ich den Überblick behalte und nicht wichtiges zu lesen vergesse, denn alles schaffe ich bestimmt nicht … –: zumindest hier nicht, bei all den Sensationen.«
… er photographierte also die Wand mit der Formel (War denn ›Formel‹ außerhalb des Mundes von Wolfram Gans der adäquate Ausdruck?) und mit ihrer Umgebung, damit man Rückschlüsse auf das Mediterrane der Gegend schließen konnte, etwa durch die Häuser im hiesigen Stil, durch eine Palme und durch diese wie improvisiert aussehenden (was sie aber nicht waren) Holzmasten, über die Strom, Telephon und wasweißichsonstnoch an die Häuser verteilt wurde.
Dann ging er zum Kühlschrank, nahm sich trotz der frühen Urzeit eine Flasche Bier (Heineken, das hier in 0,25-Liter-Fläschchen verkauft wurde) –
»Was solls, die eigene Wiederauferstehung muß gefeiert werden!«
– setzte sich an den Schreibtisch, transferierte – dabei (wie sinnig!) Fred Frith’ The Happy End Problem (2007) hörend – die photographierten oder sonstwie als Daten festgehaltenen Blicke auf die Formel auf seinen großen Laptop, suchte sich aus der gemachten Bilderserie das beste Bild aus, veränderte an dem noch mit einem Manipulationsprogramm die Kadrierung ein wenig, brachte den Horizont in die Horizontale, modifizierte den RGB-Modus in einen Graustufen-Modus, probierte mit den Abgleich-, den Helligkeits- und den Kontrastoptionen herum, bis er einigermaßen zufrieden war, skalierte die Druckgröße, öffnete das Dokument mit der Druckvorlage des Textblocks von Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius, ging dort auf die Seite 71, kopierte eine Passage, die wir dort geschrieben hatten, ging von da auf die Seite 356, fügte die kopierte Passage ein und ergänzte und modifizierte sie für seine Zwecke …
Wir wollen es also, was das Ende des Hans Köberlin betrifft, eher mit Wolfram Gans denn mit einem, wie sich gezeigt hat, doch nicht ganz so zuverlässigen Autor halten, dem unverwüstlichen Wolfram Gans, der seit zwanzig Jahren in der Landesnervenklinik in der Kindheitsstadt des Busenfreundes und der Geburtsstadt Charles Bukowskis unermüdlich in der Manier eines Cato Censorius oder in der Manier eines Liebhabers der Musik des bereits in einer Fußnote erwähnten Elvis Presley ununterbrochen Zeugnis davon ablegt, daß Hans Köberlin lebe.
Dann fügte er eine Fußnote ein – die 887.*** – und schrieb dort …
Vgl. oben, S. 71. Außerdem erreichte uns von unserem Gewährsmann im Mediterranen aus dem Land des Ritters von der traurigen Gestalt und dem Land des genialen Luis Buñuel, an jener Küste (allerdings etwas weiter südlich), an welcher auch der nicht minder geniale Roberto Bolaño sein Exil verbracht untenstehende Photographie einer Wandschmiererei an der weißen Küste …
… und fügte schließlich als Abschluß dieses verfluchten Kapitel XX das eben angefertigte Bild darunter.
»Strich drunter!«
»Das war einmal eine Selbstreferenz!«****
»… lisant au livre de lui-même …«*****
Sehr zufrieden mit sich und seiner Aktion trank er sein Bier aus und holte sich ein neues Fläschchen Heineken. Gern hätte er jemand von seinem Coup berichtet, aber außer der Frau durfte er niemandem sagen, daß er sich selber wiedererweckt hatte. Vielleicht, so überlegte er sich, vielleicht sollte er auch Berichte schreiben … sein Schreiben operativ schließen … er berichtete dann über das Berichten … oder nein: er berichtete über sich selbst beim Berichten …******
»Und was wäre dann unsere Rolle dabei?«*******


* Boxer und Bergsteiger erwiesen sich als gleich ergiebige Metaphernlieferanten.
** Wenn Hans Köberlin seinen Namen dem hiesigen Idiom anpassen würde, dann wäre sein Vorname Juan. Er würde sich dann einen dem seinen ähnlichen Nachnahmen suchen; mit dem K hatten sie es hier nicht so, also etwas mit C, Co …; und er schaute in seinem Taschenwörterbuch …
  • Señor Juan Cobalto oder
  • Señor Juan Cobertera oder Cobertizo oder Cobertor oder Cobertura oder
  • Señor Juan Cobija oder Cobijar oder Cobiarse oder
  • Señor Juan Cobra oder
  • Señor Juan Cobrable oder Cobradero oder Cobrador oder Cobranza oder Cobrar oder Cobrarse oder
  • Señor Juan Cobre oder Cobrizo oder
  • Señor Juan Cobro …
… also einen Nachnamen mit drei oder vier Silben … Señor Juan Cobertura (Hans Deckung) …
*** Das ergab auf dem in dem Haus gefunden solarenergiebetriebenen Taschenrechner (so ein Exemplar wie es zu Werbezwecken verschenkt wurde) einen Fußnotenkoeffizienten von 2,491573033707865 (insgesamt kam Telos auf einen Fußnotenkoeffizienten von 2,459715639810427).
**** »Das vermeintlich fragile postmoderne Subjekt wird zum Superautor, der den gesamten Prozeß – Produktion, Promotion, Distribution, Rezeption – de facto mitkontrolliert und steuert.« (Matteo Galli, The Artist is Present. Das Zeitalter der Poetikvorlesungen; in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, hrsg. v. Christian Demand, Heft 776, 68. Jahrgang, Stuttgart Januar 2014, S. 62), oder, etwas drastischer artikuliert: »… sein eigener Zuschauer zu sein, etwa in dem Sinn, wie ein Betrunkener einem Stockbetrunkenen begegnet und von dem Anblick wieder fast nüchtern wird.« (Handke, Der Große Fall, Berlin 2011, S. 218).
***** Stéphane Mallarmé, Hamlet et Fortinbras.
****** Vgl. Thirlwells Anmerkungen im Kontext von Puschkin, alles könne wie Fiktion behandelt werden, das einzige, was man dazu benötige, sei das richtige Vorwort, und alles was man brauche, sei ein Erzähler, und schließlich sei jeder Erzähler erfunden (Adam Thirlwell, Der multiple Roman. Vergangene und zukünftige Abenteuer der Romankunst, verortet auf fast allen Kontinenten, in zehn Sprachen & mit einem gigantischen Ensemble von Schriftstellern, Übersetzern & und anderen Phantasiewesen, Frankfurt am Main 2013, S. 71).
******* Goethe, Gedichte. Nachlese:
Was ich am meisten besorge: Bettina wird immer geschickter,
  Immer beweglicher wird jegliches Gliedchen an ihr;
    Endlich bringt sie das Züngelchen noch ins zierliche F …,
      Spielt mit dem artigen Selbst, achtet die Männer nicht viel.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

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