Montag, 9. November 2015

Samstag, der 9. November 2013


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Zuerst las er in Hebbels Tagebüchern über mehrere Seiten, wie der im November 1861 um ein verstorbenes Haustier, ein zahmes Eichhörnchen, trauerte. Als Jahre zuvor sein von ihm, Hebbel, schnöde im Stich gelassenes uneheliches Kind gestorben, hatte er wesentlich gelassener mit ein paar falschen Pathosformeln und Allgemeinplätzen reagiert. Der eitle Paranoiker, der allen ans Bein gepißt, weil er, von sich auf andere schließend, gedacht, alle wollten ihm ans Bein pissen, schrieb am 6. November 1861: »Du (das Eichhörnchen) warst mir Ersatz für die Verräther, die mich auf so niederträchtige Weise verließen.« Blumenberg hatte irgendwo darüber – nicht über das Eichhörnchen, sondern über Hebbels Charakter – geschrieben, Hans Köberlin wollte in den Blumenbergbänden seiner Basisbibliothek nachlesen, fand aber die betreffende Passage nicht.*
Dann las er bei Luhmann eine interessante Passage (Bielefelder unter sich) …
Nur für das alle Kommunikation einschließende Gesellschaftssystem wird dieses Problem des mitproduzierten Schweigens akut. Jedes andere soziale System, das in der Gesellschaft sich bildet, kann davon ausgehen, daß auch in der Umwelt noch Kommunikation stattfindet. Was nicht im System gesagt wird, kann immer noch von anderen Systemen aus anderen Anlässen mit anderen Worten, Begriffen, Metaphern kommuniziert werden. Nicht so für die Gesellschaft. Deren Umwelt schweigt. Und selbst diese Charakterisierung als »Schweigen« ist noch eine der Kommunikation und noch eine mit Bezug auf Kommunikation; denn in Wirklichkeit ist »Schweigen« ja keine Operation, die außerhalb der Gesellschaft faktisch vollzogen wird, sondern nur ein Gegenbild, das die Gesellschaft in ihre Umwelt projiziert, oder auch der Spiegel, in dem die Gesellschaft zu sehen bekommt, daß nicht gesagt wird, was nicht gesagt wird.
So könnte ein Systemtheoretiker also das Nichts beschreiben … (hat er etwas geschrieben in der Art wie etwa ›Etwas und Nichts‹?) und weiter schrieb Luhmann, in diesem Sinne gehöre das Thema ›Reden und Schweigen‹ in die Gesellschaftstheorie, und Wittgensteinkommentare, die sich damit befaßten, befaßten sich mit Gesellschaftstheorie. – Auch Wittgenstein hatte – aus einer Laune heraus und quasi auf den letzten Drücker – den Weg in Hans Köberlins Basisbibliothek gefunden, mit dem Tractatus, den philosophischen Untersuchungen und einer Sonderausgabe der ersten fünf Bände der wiener Ausgabe. Die schlug jetzt Hans Köberlin willkürlich auf und las …
Das Unsinnige ist schon, daß man so oft denkt als wäre eine große Zahl dem Unendlichen doch näher als eine kleine.

Das Unendliche – wie gesagt – konkurriert mit dem Endlichen nicht. Es ist das, was wesentlich kein Endliches ausschließt.

In diesem Satz haben wir das Wort »kein« und das darf wieder nicht als Ausdruck einer unendlichen Conjunktion verstanden werden, sondern »wesentlich kein« gehört zusammen. Es ist kein Wunder daß ich die Unendlichkeit immer wieder nur durch sich selbst erklären kann d. h. nicht erklären kann.**
Zwischen den Seiten 86 und 87 seiner Ausgabe fand Hans Köberlin ein Lesezeichen, die Banderole der CD-Hülle von John Zorns Filmworks Vol. II. Hans Köberlin las die beiden Seiten, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wann oder warum er die Banderole dort hinterlassen hatte. Er überlas die Doppelseite nochmals und fand aktuell bemerkenswert: »Der endlose Weg hat nämlich nicht ein ›unendlich fernes‹ Ende sondern kein Ende.« (mit Kommata war Wittgenstein anscheinend äußerst sparsam). Dieses hätte er, dachte Hans Köberlin sich, gut in Kapitel XXIII des dritten Berichts zitieren können, aber deswegen konnte das Lesezeichen dort nicht liegen, es war bestimmt länger als ein Jahr her, daß er den Band in der Hand gehabt.


* Noch ein schlimmes Beispiel vom 6. Mai 1835: »Das Mädchen hängt unendlich an mir; wenn meine künftige Frau die Hälfte für mich empfindet, so bin ich zufrieden.« Den folgenden Eintrag aus dem Dezember 1836 führen wir hier an um zu zeigen, daß es doch auch einiges Bemerkenswerte in seinen Tagebüchern zu finden gibt: »Es ist die größte Dummheit der Maus, daß sie, einmal in der Falle gefangen, nicht wenigstens noch den Speck, der sie hinein gelockt hat, verzehrt.« Oder aus dem gleichen Jahr seine Version von Ps 23: »Das aus dem Wagen eines Schlachters gehobene schlafende Kalb.« Oder das Übel aller versierten Schreiber: »Ich kann Alles, nur das nicht, was ich muß.« Und schließlich am 14. März 1837: »Ich sehne mich nach einer Mondschein-Nacht in Rom.« Am Samstag, dem 21. August 1920 zitierte Friedrich Glauser im Irrenhaus in seinem Liso von Ruckteschell dedizierten Tagebuch einen Eintrag Hebbels vom 15. Dezember 1836 (vgl. Friedrich Glauser, Das erzählerische Werk, hrsg. von Bernhard Echte und Manfred Papst, Zürich 2000, Bd. 1: 1915-1929: Mattos Puppentheater, S. 38): »In die Hölle des Lebens kommt nur der hohe Adel der Menschheit. Die anderen stehen davor und wärmen sich.« (ebd., S. 364), und er fragt ebendort vier Tage später sein »kleines Lison«: »Wie gefällt der Hebbel-Poseur?«, um dann darauf zu kommen: »in der Hölle finde ich Erlösung. Das ist Trost.« Man hatte bei ihm »Dementia praecox und konstitutionelle Psychopathie« diagnostiziert, was ihn aber, als ihm ein verständiger Arzt erzählt hatte, diese Diagnose habe man auch Hölderlin gestellt, nicht weiter erschütterte, und er empfahl, den griechisch-idealistischen Hölderlin (Der blinde Sänger) mit dem wahnsinnigen, »zu uns passenden« Hölderlin (Chiron) zu vergleichen (ebd., S. 365f.). Und Hans Köberlin nahm sich vor, dies bei nächster Gelegenheit zu tun.
** Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen; in: Wiener Ausgabe. Studien Texte, Band 1 – 5, hrsg. von Michael Nedo, Frankfurt am Main o. J., S. 145; zum tautologischen (nicht) Erklären vgl. ebd., S. 94: »An der Endlosigkeit ist eben nur die Endlosigkeit unendlich.« – In Friedrich Glausers Erzählung Der Heide (a. a. O., S. 57) meinte der Protagonist Jérôme Benoît: »Die Dummheit der Menschen ist unergründlich und für uns der einzige Maßstab der Unendlichkeit.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel VI [Phase II – oder: post Telos], 3. bis 14. November 2013).

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