Montag, 15. Juni 2015

Über das romantische Empfinden

Das romantische Empfinden setzt die Dinge jenseits der Dinge fort. Wie der Schatten den Körper. Wie die an den Gegenständen haftende Erinnerung an sie. Die Fortsetzung des Dinges. Lebendig, gegenwärtig, greifbar. Das Ding und zugleich die Erinnerung an das Ding ›in der Gegenwart‹. Sonst haben die Dinge keinen Schatten, keine Erinnerung.

(Alberto Savinio, Mein privates Lexikon, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter, Frankfurt am Main 2005, Stichwort Kometen-Wörter, S. 208).

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Er verließ also das Haus durch das untere der beiden Tore, schloß es wieder hinter sich ab, hielt sich links (die untere, wie gesagt, adreßgebende Straße war eine Sackgasse, das hatten sie gestern am Abend festgestellt, als sie auf die alte Nachbarin gewartet), auf der Straße Schwellen aus Kunststoff, dead policemen, wie man sie in der neuen Welt nannte, kam bis zu einer Einfallsstraße und ging dort rechts auf einem schotterigen Streifen – aber dennoch auf einer elementareren Erde, wie Borges dieses Empfinden des Gehens in einem Ausnahmezustand einmal komperativ ausgedrückt hatte – neben der Fahrbahn bergab. Mit überhöhter Geschwindigkeit – ein Schild gemahnte 40 – rasten Autos die Einfallstraße hinauf (sie nahmen Anlauf für die Steigung) und hinab (man befand sich Abfahrtsrausch), nach ein paar Metern stand auf dem Schotter neben der Straße das Ortseingangsschild, auf dem, wie auf vielen Schildern in der Region, mit Übermalungen und Überschreibungen der Übermalungen et cetera ad infinitum der bereits erwähnte absurde Kampf um das e ausgetragen wurde.
Hans Köberlin blickte – Achtung: erster Eindruck! – auf eine nach dem hiesigen König – der, das sei hier nur nebenbei bereits verraten, im Verlauf von Hans Köberlins Exil seinen Thron räumen sollte – benannte vierspurige Straße mit einem von der Sonne gedörrten begrünten aber durch Staub gebräunten Mittelstreifen, zu der sich als Fortsetzung die zweispurige Einfallstraße, die er hinabgegangen, hinter einem Kreisverkehr erweiterte, an deren Ende sich ein phallusartiges Hochhaus, ein Teil des bereits erwähnten ›Ifach Parc‹, wie er später herausfinden sollte, erhob. Hans Köberlin dachte, das Gebäude habe die Gestalt eines auf den Kopf gestellten Ypsilons (Sie können der Phallusassoziation folgen?), doch was er von weitem gesehen für die Öffnung zwischen den Schenkeln des kopfstehenden Buchstabens gehalten (Schenkel … jetzt kamen feminine Assoziationen ins Spiel, aber nicht wegen des Anblicks des Gebäudes, sondern wegen der Begriffe seiner Beschreibung), stellte sich später, als er das Gebäude zum ersten Mal von nahem passierte, als verglaster dreieckiger Lobbyvorbau heraus.
(…)
Hans Köberlin empfand angenehm die hier herrschende und anscheinend zu Alliterationen verleitende und eine allgemeine Wollust verbreitende Hitze. Hans Köberlin besah sein Exil im äußersten Maße unkritisch, denn dadurch, daß es ihm Exil war und dadurch, daß es das Meer gab und dadurch, daß die Sonne schien, war der Ort ihm, Hans Köberlin, über jede Kritik – auch die der Frau …
»¡Vive Dios, que me espanta esta grandeza!«
– erhaben. Es galt ihm hier, was die Differenz zwischen Wahrnehmung beziehungsweise Empfindung und die als ›Wirklichkeit‹ an ihn herangetragene Fremdwahrnehmung betraf, Hegels berüchtigtes Diktum: »Umso schlimmer für die Wirklichkeit.« Der Schluß von Borges’ Essay La muralla y los libros fiel ihm ein: die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte, so Borges in einer seiner genialen Aufzählungen, wollten einem etwas sagen oder hätten einem etwas gesagt, was man nicht hätte verlieren dürfen (eine Option à la Baudelaire; H. K.), oder schickten sich an, einem etwas zu sagen, und dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht käme (dito; H. K.), sei vielleicht der ästhetische Vorgang.
Linkerhand der vierspurigen Straße reihten sich die Hochhäuser, die er von der Dachterrasse aus gesehen hatte, und rechts lag eine große Brachfläche (»el terreno baldío que se deshace en yuyos y alambres« sollte Hans Köberlin später in Borges’ Luna de enfrente lesen). Die beiden Supermärkte – ›Consum‹ (ein Name, der – anders betont als hier üblich ausgesprochen – bei der Frau Assoziationen an ihre Kindheit auslöste …) und ›Mercadona‹ – lagen links und rechts des Kreisverkehrs.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel III [Ankunft], 5. bis 9. Oktober 2013).

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