Nach dem Dauerlaufen frühstückte Hans Köberlin witterungsbedingt wieder im leeren Wintergarten und hörte dabei jenes Konzert, das Miles Davis am 29. September 1972 in der Philharmonic Hall der Stadt, die niemals schlief, gegeben hatte; man befand sich nun wieder in der stockhausigen On the Corner-Zeit, es waren anscheinend zwei Sets, weil es zweimal The Theme gab, aber Hans Köberlin behandelte sie, da es zu keinen Wiederholungen kam, wie eines, es konnte ja auch sein, daß es nur eine Pause innerhalb eines Sets gegeben hatten. Die Aufnahme begann mit Rated X, ein teuflischer Groove, der auf M’tumes Perkussion und kurzen Riffs einer per Wah-wah pedal verzerrten elektrischen Gitarre basierte, akzentuiert von Miles Davis’ gleicherart verzerrten Trompete, bis sich nach gut fünf Minuten Hendersons elektrischer Baß mit ein paar heftigen Schlägen meldete und, gefolgt von dem Saxophon, in das Treiben einstieg, ein geniales Gewusel, das Hans Köberlin anscheinend dazu verleiten wollte, zur angemessenen Rezeption unangemessen auf nüchternen Magen irgendeinen hochprozentigen Alkohol zu trinken – in die Jahre gekommen gab er freilich dieser Versuchung aus Vernunftsgründen nicht nach.* Es folgte Honky Tonk, wobei der Bruch nicht so arg war, wie sich das hier vielleicht liest, man erkannte das Stück am Baß, aber die Trompete wies schon auf die kommenden drei Jahre; wunderbar das Saxophon! Hans Köberlin schaute nach: Carlos Garnett … den Namen hatte er noch nicht bewußt wahrgenommen … er durfte nicht vergessen, daß er heute Nachmittag einen Termin mit Carlos Metafonía hatte … Es folgte Theme from Jack Johnson, es klang diesmal wie das Intro von Moja (Dark Magus) oder Zimbabwe (Pangaea) und nicht wie das gleichnamige Stück von Agharta, dem folgte Black Satin, durch eine leichte Akzentverschiebung des Baßlaufs etwas kommoder als im Studio, dann, nach einem Applaus, gut eine halbe Stunde Ife, in der ersten Viertelstunde ruhige Meditationen der Musiker auf einem monotonen Baß, dann wurde es kurz hektisch wie bei der Studiosession, wieder ruhig und ging schließlich in ein modifiziertes Right Off über. Es war ein sehr anregendes Frühstück. Hans Köberlin überlegte, wie das wäre, mit einem Wah-wah pedal verzerrt zu schreiben … Aber es war ja nicht die Verzerrung der Klänge, die diese Musik ausmachte, sondern der spezifische Rhythmus, M’tumes Perkussion vor allem … Und für sein Schreiben wäre das Wah-wah pedal wohl nicht die angemessene Metapher.
* »Meine Kompositionen waren schon lange Zeit kreisförmig angelegt und durch Stockhausen wurde mir jetzt klar, daß ich nie wieder zu dem alten Achttakteschema zurückkehren will, denn meine Stücke sind nie zu Ende; sie können immer weitergehen […] Stockhausen regte mich dazu an, Musik als einen Prozeß von Addition und Subtraktion zu betrachten. Genau wie ein ›Ja‹ nur nach einem ›Nein‹ Sinn bekommt. Ich experimentierte viel. Beispielsweise sagte ich meiner Band, sie solle den Rhythmus spielen, ihn halten und auf nichts reagieren, was passiert; das Reagieren wollte ich übernehmen.« (Miles Davis und Quincy Troupe, Die Autobiographie, München, 42000, S. 442f.).
(¡Hans Koberlin vive! oder Schreiben als Ausziehtanz. Versuch einer Langzeitdokumentation vom 2. Oktober 2013 bis zum 21. August 2014, nebst einem Prolog, anhebend bei der Schöpfung der Welt, und einem Epilog, fortdauernd bis zu deren Ende, Calpe, Berlin und Heide 2013ff., Zweiter Teil. Vom 20. Dezember 2013 bis zum 27. April 2014, X [Vierte Phase – oder: modus vivendi] Vom 7. bis zum 30. Januar 2014, S. 1025f.).