Dienstag, 6. Oktober 2015

Sonntag, der 6. Oktober 2013


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Heute also sollte der Peñón de Ifach, dessen Gipfel 332 Meter über dem Meeresspiegel lag, was wegen seines monolithischen Herausragens aus dem Meer besonders anschaulich war, erstiegen werden. Dazu muß gesagt werden, daß Hans Köberlin unter Akrophobie litt, doch wie ein Esel hinter der ihm vorgehaltenen Möhre, so stieg er – die Schlußverse aus Faust. Der Tragödie zweiter Teil zitierend* – tapfer hinter der Frau, einer Venus Kallipyge – leidenschaftliche Bergersteigerin in der xten Generation – bergan.
Diese Bergwanderung und auch die künftigen Aktionen dieser Art nun stellen uns vor einige Probleme, denn in dem Berichten von Naturerscheinungen und Naturerlebnissen sind wir ganz, ganz schlecht. Zum Beispiel hatte, wie bereits gesagt, der Hans Köberlin nicht bekannte Autor Gabriel Miró, nach dem die Hauptstraße des Ortes hier benannt worden war, den Peñón de Ifach als eine Verkörperung von Größe, stiller Herrschaft und unerreichter Majestät bezeichnet. Man konnte in der Tat diesen Eindruck haben, wobei das letzte vielleicht etwas übertrieben war, aber diese Bezeichnung war weder poetisch noch vermittelte sie jenen, die nicht vor dem Kalksteinfelsen standen, einen adäquaten Eindruck. Man könnte damit auch sonst einen Berg oder einen Gipfel oder sogar einen Dom beschreiben … Dann schon eher Georg Simmels Definition der Alpen: »eine absolute Höhe, ohne die dazu gehörige Tiefe«,** obwohl die hier zu Hans Köberlins Schrecken omnipräsent war. Auf den Punkt gebracht hatte unser Problem mit der Natur der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares in seinem Livro do Desassossego, indem er schrieb, er glaube nicht an Landschaften, und an anderer Stelle, an der er schrieb, er liebe einen bestimmten Fluß, weil eine große Stadt an seinem Ufer liege, und die Zivilisation erziehe uns für die Natur. Man gebe uns etwas anderes, einen anderen Gegenstand … zum Beispiel …: einen Geschlechtsakt zum Beispiel, davon zu berichten – und zwar lege artis zu berichten! – würden wir uns zutrauen, angefangen mit den ersten Küssen und dem Ausziehen und den Vorspielen, verbal und manuell und oral et cetera, über das langsame Eindringen, die diversen Rhythmen und Phasen der Vereinigung, die Stellungswechsel und die Wechsel der Körperöffnungen bis hin zu den letzten Zuckungen der finalen Orgasmen und den Nachspielen und dem anschließend eng verschlungenen Ruhen … minutiös würden wir davon berichten, achwas, minutiös: sekundiös … – Aber Natur pur …?!***


* Man erinnere sich, wie die Rolling Stones 1981, als Hans Köberlin mit 21 das elterliche Haus verlassen, auf Tattoo You in dem Song Tops diese goetheschen Verse interpretiert hatten …
’Cause I’ll take you to the top, baby
Hey baby, I’ll take you to the top
I’ll take you to the top, baby
I’ll take you to the top.
Die Goncourts diskutierten am 3. Mai 1857 mit Madame de C***, der Mätresse von Asseline, erstens, ob die Frauen die Männer leiten – die Mätresse focht nach Aussage der Brüder quasi pro domo sua gegen ihre Meinung, die »Oui« gelautet, an, habe aber dann einen Rückzieher gemacht –, und zweitens, ob es für einen Mann ein Glück sei, von einer Frau geleitet zu werden, dem sie, die Brüder in etwa beigepflichtet hätten (vgl. Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 1, S. 456f.).
** Georg Simmel, Die Alpen; in: Philosophische Kultur, Leipzig 2. Aufl. 1919; S. 140. Als wir nach diesem Zitat suchten, stießen wir auf einen anderen Essay Simmels, nämlich auf Gestalter und Schöpfer (in: Der Tag, Nr. 74, Berlin 10. Februar 1916, Ausgabe A, Morgenausgabe, Illustrierter Teil, Nr. 34). Und diese Differenzierung in Gestalter und Schöpfer entsprach weitestgehend jener Differenzierung von Claude Lévy-Strauss in Ingenieure und Bricolateure, die bekanntlich eine unserer Leitdifferenzierungen ist. Hatte Lévy-Strauss Simmel rezipiert? Oder war es eine unabhängig getroffene Annahme. Und sollte es deren noch weitere geben? Hugos Barrikaden in Les miserables, Christus, der nach dem Glaubensbekenntnis von Nikäa gezeugt und nicht geschaffen wurde … Simmel jedenfalls nahm beide nicht wie Lévy-Strauss als Typen, sondern als Endpunkte einer Reihe, deren Wechselwirkung er zu beschreiben trachtete: »Diese eigentümliche Kombination macht den Menschen zum historischen Wesen. Das Tier wiederholt schlechthin, was seine Gattung von je und je getan hat; gerade deshalb fängt jedes Individuum von vorn an, da, wo auch dessen Vorfahren angefangen haben. Der Mensch, gerade weil er nicht nur wiederholt, sondern Neues schafft, kann nicht jedes Mal von neuem anfangen, sondern braucht ein gegebenes Material, gegebene Antezedenzien, auf Grund derer sich seine Leistung als Neuformung vollzieht. Wir würden nicht historische Wesen sein, wenn wir absolut schöpferisch wären, unser Wirken schlechthin Neues schüfe – damit wären wir sozusagen überhistorisch – noch wenn wir ohne Schöpfertum uns absolut an das Gegebene und etwa seine nur mechanische Umstellung, seine Umformung im engsten Sinne hielten. Historisch aber nennen wir eine Existenz, die zwar Neues und erst ihr Eigenes schafft, aber auf Grund und als Fortbildung, Formgebung eines schon Vorhandenen und Überlieferten – die organische Synthese von Schöpfertum und Gestaltertum, die wir leben.« (ebd.).
*** Vgl. aber in seiner unnachahmlichen Art und mit surrealen Metaphern Walter Benjamin (auch in Bezug auf den ›striptease table‹): »Im Fetischismus legt der Sexus die Schranken zwischen organischer und anorganischer Welt nieder. Kleidung und Schmuck stehen mit ihm im Bunde. Er ist im Toten wie im Fleisch zuhause. Auch weist das letztere selber ihm den Weg, im ersten sich einzurichten. Die Haare sind ein Konfinium, welches zwischen den beiden Reichen des Sexus gelegen ist. Ein anderes erschließt sich ihm im Taumel der Leidenschaft: die Landschaften des Leibs. Sie sind schon nicht mehr belebt, doch immer noch dem Auge zugänglich, das freilich je weiter desto mehr dem Tastsinn oder dem Geruch die Führung durch diese Todesreiche überläßt. Im Traum aber schwellen dann nicht selten Brüste, die wie die Erde ganz mit Wald und Felsen bekleidet sind und die Blicke haben ihr Leben in den Grund von Wasserspiegeln versenkt, die in Tälern schlummern. Diese Landschaften durchziehen Wege, die den Sexus in die Welt des Anorganischen geleiten.« (Walter Benjamin, Das Passagen-Werk; in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. 5, S. 118). Luhmann spricht von »Neubeschreibung der Natur als Reflex individueller, zum Beispiel ästhetisch geschulter und durch Liebe erregter Beobachtungsweise« (Niklas Luhmann, Literatur als Kommunikation; in: Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, Frankfurt am Main 2008, S. 383). Auch Georg Seeßlen kommt zu ähnlichen Einsicht wie Hans Köberlin und wie Benjamin: »Die Erscheinung des Sexgöttinnen schafft um sich herum ein allgemeines Klima der Erotisierung, das (…) den Unterschied (…) zwischen Menschen und der Dingwelt verwischt. Der Luxus der Sexstars war Belebung und Erotisierung des Gegenständlichen.« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Aufl. 1996, S. 21). Und die Goncourts notierten im Mai 1859 in ihrem Journal, die Natur oder vielmehr die Landschaft sei stets das gewesen, was die Menschheit aus ihr gemacht habe, und sie zitierten am Donnerstag, dem 16. Februar 1860, ihren Freund Saint-Victor, der ausgerufen habe, die Natur sei eine Schlampe, die im Überfluß Planeten und Filzläuse hervorbringe (vgl. Journal, a. a. O., Bd. 2, S. 382). Flaubert machte sie am Sonntag, dem 29. Januar 1860 auf »l’horreur de la nature« des Marquis de Sade aufmerksam: »Remarquez-vous qu’il n’y a pas un animal, pas un arbre dans de Sade?« (vgl. ebd., S. 366). Und im Ulysses, in Mr Blooms Bewußtseinsstrom, da hieß es knapp: »Nature. Washing child, washing corpse.« (James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 337). In diesen Themenkomplex gehört natürlich auch Lichtenbergs bereits zitierter Aphorismus: »Unsere Erde ist vielleicht ein Weibchen.«, und auch in Arno Schmidts Sitara (und nicht nur dort) trifft man auf sexualisierte Landschaften.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel III [Ankunft], 5. bis 9. Oktober 2013).

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