Mittwoch, 21. Oktober 2015

Montag, der 21. Oktober 2013


[20 / 304]
»Wo man sagen kann, etwas habe schon Homer gesagt oder gar gefragt, ist die Vermutung kaum widerlegbar, es handle sich um uralte Bestände menschlichen Sinnens und Denkens«, hatte Hans Blumenberg treffend festgestellt. – Lese in den Telosfragmenten, daß Clemens Limbularius nach Catania hatte wandern wollen, dem Ort also, an dem sich die Episode mit dem Kyklopen abgespielt, um dort den Kreis seiner seltsamen Abenteuer zu schließen.* Nun, ich habe ein eher ambivalentes Verhältnis zu dem Listenreichen – nicht bloß wegen Adorno & Horkheimer und auch nicht bloß wegen Canetti –, ich mag Odysseus lieber in seiner Gestaltung als Leopold Bloom denn in der Gestaltung als antiker Heros … Was mir aber gefällt ist die Geschichte mit den Namen … Odysseus hatte ja bekanntlich, als ihn der Kyklop Polyphemos nach seinem Namen gefragt, mit einem Wortspiel geantwortet …
»Meinen berühmten Namen, Kyklop? Du sollst ihn erfahren (…) Niemand ist mein Name; denn Niemand nennen mich alle, meine Mutter, mein Vater und alle meine Gesellen.«**
Die Homophonie von Odysseus und Oudeis (= Niemand) also rettete dem Listenreichen das Leben, denn die zum Beistand herbeieilenden Genossen des geblendeten Kyklopen zogen wieder ab, als sie hörten, niemand habe dem Polyphemos etwas angetan, und dem Odysseus »lachte die Seele vor Freude, daß sie mein falscher Name getäuscht.«***
Nun, um sich als Niemand ausgeben zu können, was ich ja quasi auch einmal gewollt, siehe: ›Schreiben ohne Leser‹,**** also um sich als Niemand ausgeben zu können, das weiß ich aus eigener leidvoller Erfahrung (…), also um sich als Niemand ausgeben zu können, dazu mußte man –: Jemand sein.
Als sich Odysseus aber dann in Sicherheit wähnte, da drängte es ihn doch aus seiner Eitelkeit, die er eigentlich nicht nötig gehabt, seinen wahren Namen preiszugeben – vielmehr die richtige Bedeutung jener Lautfolge preiszugeben, die sowohl in der Lage war, als Name ›Odysseus‹ auf eine Person zu verweisen, als auch als Antwort auf die Frage nach einer Person den Jemand als ›Niemand‹ zu negieren, was schon, wie gesagt, einen soziale Status voraussetzte. Und er, Odysseus, machte das, obwohl er damit sich und seine Kameraden der Gefahr aussetzte, zuguterletzt doch noch von den – nun nach Gehör gezielten – Steinwürfen des Polyphemos zerschmettert zu werden …
»Hör, Kyklope! Sollte dich einst von den sterblichen Menschen jemand fragen, wer dir dein Auge so schändlich geblendet, sag ihm: Odysseus, der Sohn Laërtes’, der Städteverwüster, der in Ithaka wohnt, der hat mein Auge geblendet!«
»Der Hund bespritzt den Stein mit sich und riecht zu seinem Exkrement: Spuren hinterlassen in der Welt, sich in der Welt ein Denkmal setzen, eine Tat, von der noch nach hunderten Jahren gesungen werden wird, ist der Sinn alles Heroismus.«*****
Damit verknüpfte er seine Tat – die Blendung – mit seinem Namen, oder anders ausgedrückt: er übernahm die Verantwortung für seine Handlung. Und vor allem, wie bereits gesagt: um mit der Bedeutung des eigenen Namens spielen zu können, um die eigene Identität verleugnen und wieder annehmen zu können, um schließlich sich selber als den Helden von Troja, den »Städteverwüster«, ausweisen zu können, dafür mußte Odysseus sich seiner selber und der Bedeutung seines Namens – sprich: seiner Rolle in dem Epos – sicher sein, was er konnte, wie die Episode bei den Phäaken, wo er die Ilias hörte, belegte. Und das gleiche mußte, damit er auf das Spiel hereinfallen konnte, für Polyphemos in Hinsicht auf eine Funktion des Namens Odysseus gelten.****** Und da stellte sich heraus, daß Odysseus für Polyphemos ein durchaus signifikanter Jemand war, zwar nicht der »der Städteverwüster«, so doch jener, welcher das ihm prophezeite Schicksal erfüllte …
»Weh mir! Es trifft mich jetzo ein längstverkündetes Schicksal! Hier war einst ein Prophet (…) der weissagte mir alles, was jetzt nach Jahren erfüllt wird: Durch Odysseus’ Hände würd ich mein Auge verlieren.« Polyphemos hatte sich allerdings im Schema getäuscht und war deshalb nicht auf der Hut gewesen …: »Doch erwartet’ ich immer, ein großer und stattlicher Riese würde mich hier besuchen, mit großer Stärke gerüstet! Und nun kommt so ein Ding, so ein elender Wicht, so ein Weichling …«
»Die Kraft der Mücke liegt darin«, notierte Hebbel 1861 in seinem Tagebuch, »daß sie keinen Namen hat.«
Polyphemos war eine Art von Don Quichote: er dachte in falschen Heldenkategorien: List war anstelle seiner – primitiven – Tugenden (Gewalt) getreten.
Diesen ganzen Voraussetzungen für das Spiel mit den Namen entsprach, daß in der Odyssee die Helden nicht eingeführt wurden, daß sie nicht zu Helden wurden, sondern es bereits immer schon gewesen waren (»… man of good fortune …«). Deshalb konnten die homerischen Epen in medias res beginnen, wofür ihn, Homer, Horaz bekanntlich gelobt hatte, in medias res beginnen ohne damit den zeitgenössischen Rezipienten zu irritieren.
Und meine Rezipienten …*******


* Vgl. vom Verf. Telos, Berlin 2013, S. 143, S. 201, S. 360ff. und S. 366f.
** Odyssee, IX.364ff. Die Übersetzung ist die von Voß.
*** Apropos ›Name‹ – da fällt uns eine Parenthese von Georg Seeßlen ein: »interessant, daß Marlene Dietrich als ›Marlene‹ und Greta Garbo als ›Garbo‹ in die Filmkritik und Filmgeschichte eingegangen sind« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Aufl. 1996, S. 48). Zwei Formen, Unnahbarkeit zu benennen … Odysseus stand übrigens nicht bloß bei der Benennung eines grausam prolongierten Heimwegs Pate, sondern auch bei der des lokalen Trailerparks hier im Ort von Hans Köberlins Exil.
**** Außerdem hatte Hans Köberlin sich selber einmal – auch ›quasi‹ – als Name ohne Träger ausgeben wollen, als er seinem nervlich zerrütteten Herausgeber nächtens in der Bibliothek erschienen war, ohne zu ahnen, daß auch er einmal unter den gleichen Zerrüttungen leiden würde (vgl. vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 344ff.). Soviel Chuzpe wie damals wollte Hans Köberlin noch einmal haben … Und besonders stolz war er auf seine Bemerkung, die er auch gleich nach seiner Rückkehr nach Polignano a mare in seine Kladde geschrieben hatte …: »Wer einmal trocken im Nassen gestanden hatte, den konnte in der Hinsicht so leicht nichts mehr erschüttern.« (vgl. ebd., S. 346). Er hatte natürlich die beiden ersten Berichte über die seltsamen Abenteuer des Clemens Limbularius in seiner Basisbibliothek, und er konnte sich manchmal – eitler Geck der er war – nicht enthalten, die ihn selber betreffenden Passagen darin zu lesen. Beim dritten Bericht allerdings …
***** Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften; in: Gesammelte Werke, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek 1978, Bd. 1, S. 1746.
****** Siehe Odyssee, IX.513ff. – »Identität wird nur dann verliehen, wenn man auf etwas zurückkommen will (…) Das Identifizierte wird in ein Schema überführt oder mit einem bekannten Schema assoziiert. Es wird bezeichnet und dadurch bestätigt, und dies so, daß es auch für andere Rückgriffe in anderen Situationen denselben Sinn behalten kann.« (Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 2. Aufl. 1996, S. 75).
******* »Das führt auf eine weitere Frage: Was macht man mit dem Aufgeschriebenen? Sicher produziert man zunächst weitgehend Abfall. Wir sind aber so erzogen, daß wir von unseren Tätigkeiten etwas Nützliches erwarten und andernfalls rasch den Mut verlieren. Man sollte deshalb überlegen, ob und wie man die Notizen so aufbereitet, daß sie für einen späteren Zugriff zur Verfügung stehen, oder dies einem zumindest als tröstende Illusion vor Augen steht.« (Niklas Luhmann, Lesen lernen; in: Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, Frankfurt am Main 2008, S. 12).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Keine Kommentare: