Clemens las Wakefield zu Ende, eine kurze Erzählung von Nathaniel Hawthorne (dem Freund Melvilles, der ihm Moby Dick gewidmet hatte), mit deren Lektüre er (…) begonnen hatte, weil Hans Köberlin auf die Erzählung zu sprechen gekommen war. Der Erzähler berichtete darin von einer kurzen Zeitungsnotiz, nach der ein Ehemann sich von seiner Frau anläßlich einer kleinen Reise für ein paar Tage höchstens verabschiedet hatte, dann heimlich in eine Wohnung in der Nachbarschaft gezogen war, dort inkognito gelebt und sein Leben ohne sich beobachtet hatte und erst nach zwanzig Jahren an den heimischen Herd zurückgekehrt war. Hawthornes Erzähler schickte sich nun an, den Raum, den diese karge Notiz eröffnet hatte, mit einem Psychogramm des Mannes, den er Wakefield nannte, zu füllen.
Hans Köberlin hatte den Text für eine geplante aber leider nie realisierte Anthologie ausgewählt, in der Zeugnisse versammelt werden sollten, die mit erschreckender Konsequenz zeigten, wie Menschen Jahrzehnte ihres eigenen und einzigen Lebens nichteten oder genötigt wurden, dies zu tun. Kafkas Vor dem Gesetz sollte die Anthologie eröffnen, dann sollte ein einleitender Essay Hans Köberlins folgen, außerdem wollte er noch seinen Text über Frank Capras It’s a wonderful life (…) einbringen, unter anderem war dann noch Alieta des hier nur durch Borges, glaube ich, breiter bekannten Leopoldo Lugones vorgesehen, von Borges natürlich Die Wartezeit nebst Vom Warten und vom Traum. Versuch eines Kommentars zu Jorge Luis Borges’ Die Wartezeit, verfertigt von Hans Köberlin (vgl. »Dicht hinter dem Ideal kommt nämlich das Zufälliges als das Nächste.«), dann noch Faulkners Rosa Coldfield aus Absalom, Absalom! und Schilderungen von auf Bahnsteigen über die Zeit hinaus warten müssenden Menschen (Bahnsteige, auf denen, davon war Hans Köberlin überzeugt gewesen, durch das Gebaren der Bahn systematisch Amokläufer und Bombenleger herangezüchtet wurden), und schließlich noch Bartleby hatte Köberlin in seiner möglichen Liste der Beispiele (die natürlich wesentlich mehr Zeugnisse umfaßte als die hier von uns erwähnten) als Grenzfall angeführt. Er könne die Unerbittlichkeit der Rache des Edmond Dantès nach vierzehn Jahren im Château d’If gut nachvollziehen, bekannte Hans Köberlin in den Versuchen zu dem einleitenden Essay (…)
Eine Schlüsselstelle kam einer Passage aus Robert Walsers Jakob von Gunten zu. Eines Tages, so schrieb der, werde von seinem Wesen und Beginnen irgendein Duft ausgehen, er werde Blüte sein und ein wenig, wie zu seinem eigenen Vergnügen, duften, und dann werde er den Kopf neigen. Die Arme und Beine würden ihm seltsam erschlaffen, der Geist, der Stolz, der Charakter, alles, alles werde brechen und welken, und er werde tot sein, nicht wirklich tot, nur so auf eine gewisse Art tot, und dann werde er vielleicht sechzig Jahre so dahinleben und -sterben. Von diesen vielleicht sechzig Jahren glaubte Hans Köberlin (laut Tagebuch), daß er sie selber so nicht aushalten könne, und auch Clemens konnte sich nicht vorstellen, das ertragen zu können.
(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 156ff.).
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