Dienstag, 30. August 2016

Wirklichkeit

… wie hätte ich nicht fühlen sollen, daß ich eben hier, wo es um etwas Erfundenes ging, der ›Wirklichkeit‹ nahe war?

(Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, Frankfurt am Main 1979, S. 288).

Freitag, 26. August 2016

Notwendigkeit

Und jetzt nehme ich etwas Weiß, ein ganz klein wenig Weiß. Ja, ich nehme Weiß, weil es hier nicht anders geht, ich muß eben Weiß nehmen.

(Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, Frankfurt am Main 1979, S. 214).

Montag, 22. August 2016

Ein bekannter Zustand

Des sommeils, où l’endormement a quelque chose d’une défaillance.

(Aus dem Journal der Gebrüder de Goncourt, Eintrag vom 28. Januar 1884).

Empirie 6. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):

  • Stand des Manuskripts:
    • Seiten: S. 1006 von ca. 1.800 Seiten
    • Fußnoten: 2997
  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 827 von ca. 1.800 Seiten
    • Fußnoten: 2341
    • Kapitel: XII (= Phase V – oder: Un gringo en Calpe) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Samstag, der 22. Februar 2014, der 144. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Beginn der Handlung: 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags*
  • Ende der Handlung: fällt mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen

* (= die momentane Fußnote 330 auf S. 68) Wir haben für unseren Prolog den Zeitraum von Anbeginn der Schöpfung bis zum Dienstag, dem 1. Oktober 2013 veranschlagt. – Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47).

Wird aktualisiert!

Freitag, den 22. August 2014


[– / ∞]
Was bei Hans Köberlin jetzt anstand, das war die systeminterne Verarbeitung der Tatsache, daß er nicht mehr länger in freier Beliebigkeit, sondern in einer gesellschaftlichen Umwelt (im engeren Sinne) für die eigene Autopoiesis zu sorgen hatte.*


* Niklas Luhmann, Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst; in: Schriften zu Kunst und Literatur, hrsg. von Niels Werber, Frankfurt am Main 2008, S. 171.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXIV [Epilog], Vom 22. August 2014 bis zum Ende der Welt).

Sonntag, 21. August 2016

Donnerstag, den 21. August 2014


[324 / 0]
Und was Edmond heute vor 133 Jahren in sein Journal notiert hatte, das paßte zu Hans Köberlins Stimmung …
Sonntag, 21. August ‒ Manchmal, wenn ich meine Feder hinwerfe ‒ und hier werfe ich sie am Ende eines Kapitels hin, in dem ich versucht habe, mein inneres Zerbrechen nach dem Tod meines Bruders wiederzugeben ‒, sage ich unwillkürlich ganz laut:
»Hab keine Angst, mein Kleiner, ich bin immer noch da … Und wir haben zusammen so viele alte Dinge ausgegraben, und das in dem Moment, in dem das heldenhaft war, daß einmal ein Jahr des XX. Jahrhunderts kommen wird, in dem jemand sagt: ›Ja, sie sind es, die all das vollbracht haben!‹«*
»Ja, ich war das, der all das in den vergangenen 324 Tagen vollbracht hat«, sagte sich Hans Köberlin, natürlich dabei sich auch bei den Brüdern, bei denen ja Edmonds Prognose sich erfüllt, bedankend, »ja ich war tatsächlich dort gewesen und habe dort gelebt, Tag um Tag für mich und so, daß es gut war.« Es sei freilich alles eher unheroisch verlaufen, gab Hans Köberlin zu, und er ging nicht davon aus, daß in einem Jahr des XXII. Jahrhunderts sich noch irgend jemand daran erinnern würde. ‒ Wir, die wir nun seit weit mehr als 324 Tagen an dieser Langzeitdokumentation sitzen, wir hoffen natürlich, daß es auch im XXII. Jahrhundert noch Leute geben wird, die sich für Hans Köberlin interessieren.
Aber Hans Köberlin? ‒ »Aujourd’hui, pour être heureuse, il doit oublier le passé, ne plus songer à l’avenir.«**


* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 7, S. 47.
** Vgl. Honoré de Balzac, LʼEnfant maudit.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXIII [Transfer retour], 13. bis 21. August 2014).

Samstag, 20. August 2016

… gilt nur für einen selber

die gelungenen werke soll man vergessen, aber nicht die mißlungenen.

(Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 320).

Mittwoch, der 20. August 2014


[323 / 1]
An der Außenwand der Apsis machte der Sohn sie auf einen Rosenstock aufmerksam, der der Legende nach tausend Jahre alt, auf jeden Fall aber der älteste bekannte Rosenstock sein sollte. Und Hans Köberlin mußte an die Rosenstöcke in seinem Haus, das ja eigentlich nicht seines gewesen, denken, und daran, wie sie zu neuer Pracht erblüht waren, nachdem die Frau sie geschnitten hatte. Verse fielen ihm ein …
For these red lips, with all their mournful pride,
Mournful that no new wonder may betide,
Troy passed away in one high funeral gleam …
… er wußte nicht von wem sie waren und warum sie ihm gerade jetzt einfielen …*


* Das ist nicht schwer: natürlich waren diese Verse von Yeats, und sie waren Hans Köberlin wohl deshalb eingefallen, weil das Gedicht, aus dem sie stammten, The Rose of the World hieß.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXIII [Transfer retour], 13. bis 21. August 2014).

Freitag, 19. August 2016

Dienstag, der 19. August 2014


[322 / 2]
Am Abend schauten sie sich dann mit dem Beamer des Sohnes an die Wand projiziert die Wiederholung einer Tatort-Episode aus dem Jahre 2012 an, Borowski und der stille Gast. Ein unscheinbarer Briefzusteller ‒ eine physiognomisch typische Rollenbesetzung mit einem Schauspieler, der einen auf bestimmte Art und Weise schmalen Mund hatte ‒ schlich sich in die Wohnungen von Frauen, die ihm gefielen, und lebte dort während deren Abwesenheit auf unangenehme und Paranoia auslösende Art und Weise: er benutzte ihre Zahnbürsten,* leckte an ihrem Essen, roch an ihrer Wäsche et cetera. Man beging nicht den Fehler, die Zuschauer nach Einführung des anonymen und für die Opfer bis kurz vor dem fatalen Ende weitgehend unsichtbaren Stalkers im Unklaren zu lassen, so war es eine ziemlich spannende Ermittlung. Außerdem kam Borowski in dieser Episode dahinter, daß seine Assistentin Sarah Brandt an Epilepsie litt. Er verriet sie nicht, legte ihr aber dringend nahe, den Beruf zu wechseln, was sie wohl nicht tun würde.** Sie wurde von einer Heroinabhängigen gebissen, vielleicht, so spekulierte Hans Köberlin, wurde das ja auch noch fortgesetzt.*** Am Ende entkam der Stalker, nachdem er beteuert hatte, er sei kein schlechter Mensch (Borowski: »Das ist mir scheißegal! Zwei Frauen sind tot.«).****


* Das kannte Hans Köberlin in nochmals gesteigerter Form aus David Foster Wallaces Infinite Jest.
** Wir wissen, daß sie es nicht tat und unseres Wissens bis heute dabei ist.
*** Es wurde das nicht.
**** Am Sonntag, dem 29. November 2015, sollte Hans Köberlin nach dem Sehen der Fortsetzung Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes in seinem Arbeitsjournal notieren: »Noch ein Fehler der neueren Episoden, auf den wir beim Anschauen dieser gekommen sind: man glaubt, es sei spannender, wenn der Ermittler persönlich betroffen ist. Dies hier war nur ein schwacher Abklatsch der Originalepisode.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXIII [Transfer retour], 13. bis 21. August 2014).

Donnerstag, 18. August 2016

Montag, der 18. August 2014


[321 / 3]
Als Hans Köberlin sich an dem Geldautomaten wieder satisfaktionsfähig machen wollte, da verweigerte der jegliche Auszahlung, er sprach nicht mit ihm, mit Hans Köberlin, wie die Frau scherzhaft meinte. Aber Hans Köberlin war nicht zum Lachen zumute, er erinnerte sich vielmehr jener Aufgabe des Erzählers im Ithaka-Kapitel des Ulysses
Reduce Bloom by cross multiplication of reverses of fortune, from which these supports [the endowment policy, the bank passbook, the certificate of the possession of scrip] protected him, and by elimination of all positive values to a negligible negative irrational unreal quantity.*
… und er erinnerte sich an das imaginierte Schicksal von Mr Bloom …
Successively, in descending helotic order: Poverty: that of the outdoor hawker of imitation jewellery, the dun for the recovery of bad and doubtful debts, the poor rate and deputy cess collector. Mendicancy: that of the fraudulent bankrupt with negligible assets paying 1S. 4d. in the £, sandwichman, distributor of throwaways, nocturnal vagrant, insinuating sycophant, maimed sailor, blind stripling, superannuated bailiff’s man, marfeast, lickplate, spoilsport, pickthank, eccentric public laughingstock seated on bench of public park under discarded perforated umbrella. Destitution: the inmate of Old Man’s House (Royal Hospital), Kilmainham, the inmate of Simpson’s Hospital for reduced but respectable men permanently disabled by gout or want of sight. Nadir of misery: the aged impotent disfranchised ratesupported moribund lunatic pauper.
… und er erinnerte sich der anschließenden Frage des Erzählers …
With which attendant indignities?
… und der schrecklichen Antwort …
The unsympathetic indifference of previously amiable females, the contempt of muscular males, the acceptance of fragments of bread, the simulated ignorance of casual acquaintances, the latration of illegitimate unlicensed vagabond dogs, the infantile discharge of decom-posed vegetable missiles, worth little or nothing or less than nothing.
»Liebst du mich auch noch, wenn ich am Bettelstab gehe?«
»Es ist doch bloß Geld!«


* James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 629.
** Wie es bei John Lennon geheißen …
Nobody loves you when you’re down and out
Nobody sees you when you’re on cloud nine
Everybody’s hustlin’ for a buck and a dime
I’ll scratch your back and you scratch mine …
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXIII [Transfer retour], 13. bis 21. August 2014).

Mittwoch, 17. August 2016

»It is the evening of the day …«

Sonntag, der 17. August 2014


[320 / 4]
Ohne daß er es die Frau merken ließ, bedrückte Hans Köberlin dieses Fahren auf den fast schon voralpinen Landstraßen. Sie hörten dabei als Hörspiele Friedrich Glausers Matto regiert und Schlumpf Erwin Mord.*


* »… peut-être souffraiton trop lorsqu’on luttait sans relâche et mieux valait se laisser aller au gré des vents qui nous poussent«, sollte Hans Köberlin am Freitag, dem 5. Dezember 2014, in sein Arbeitsjournal exzerpieren (Friedrich Glauser, Das erzählerische Werk, hrsg. v. Bernhard Echte, Zürich 1995ff., Bd. 1. Mattos Puppentheater, S. 262).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXIII [Transfer retour], 13. bis 21. August 2014).

Dienstag, 16. August 2016

Samstag, der 16. August 2014


[319 / 5]
Die Frau und Hans Köberlin gingen dann noch durch das nächtliche Dorf, gingen durch nur von vereinzelten Straßenlaternen beleuchtete menschenleere Gassen und vorbei an einem von alten Mauern eingefaßten Rinnsal, und sie kamen sich wieder einmal vor wie in einem Film von Chabrol.* Als sie sich dem Marktplatz mit dem obligatorischen Kriegerdenkmal näherten, hörten sie aus einer Seitenstraße Lärm. Es war eine Bar, auf deren Terrasse aber niemand mehr saß und in deren Innerem nur ein letzter Gast mit dem Wirt trank und sich durch die laute Musik schreiend unterhielt. Ja, man habe noch offen und ja, sie könnten noch etwas zu trinken bekommen. Die Frau und Hans Köberlin setzten sich an einen Tisch auf der Terrasse und kamen beide zu dem Schluß, daß es sich wohl um eine Karaokebar handeln müsse, denn beim genaueren Zuhören erkannten sie unter den Liedern internationale Schlager, aber nur die Musik ohne die Gesangsstimme; und einer der beiden, der Wirt oder sein Gast, begann nach einer Weile lauthals das Lied ohne Worte auf brachiale Art und Weise zu komplettieren. In dem Haus gegenüber wurde Licht angemacht und eine alte Frau erschien vor der Haustüre. Sie schaute mißbilligend, unternahm aber nichts. Die Frau und Hans Köberlin rechneten mit dem baldigen Eintreffen der Gendarmerie, aber nichts passierte, auch nicht, als die Alte später nochmals in Begleitung ihres Gatten erschien und auf der Straße auf ihn einredete. Die Frau und Hans Köberlin tranken ihren Wein und wollten dann bezahlen und zurück ins Hotel, der Wirt brachte aber mit dem Wechselgeld noch zwei Gläser, die gingen aufs Haus. Hans Köberlin war das recht, er genoß diese Unwirklichkeit, denn nicht nur alle Lust, auch manche Unlust – hier: die zumindest teilweise Unlust zurückzukehren – verlangte nach augenblicklicher Ewigkeit.


* Siehe den Mittwoch, den 2. Oktober 2013 und den Samstag, den 30. November 2013.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXIII [Transfer retour], 13. bis 21. August 2014).

Montag, 15. August 2016

Freitag, der 15. August 2014


[318 / 6]
Hans Köberlin fand, daß Gaudí wie eine Mischung aus Rudolf Steiner und The Wizzard of Oz daherkam, und die Frau kommentierte treffend: »Er macht es einem zu leicht.« Bei seiner Kathedrale hatte er der naturalistischen Familienseite eine abstrakte Passionsseite gegenüberstellen wollen. Nicht die Abstraktion, so Hans Köberlin, sei das Martyrium.* Wie genial erschien beiden dagegen das Palais von Mies van der Rohe …


* Am Mittwoch, dem 16. Oktober 2002, hatte Hans Köberlin in seinem Arbeitsjournal notiert – wir zitieren das hier, weil es paßt –: »Was mir gestern nochmals klar wurde: Naturalismus bewirkt Illusion (widerstandslose Identifikation) und jede Art von Abstraktion (Verfremdung) zielt auf Realität (reflexive Identifikation).«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXIII [Transfer retour], 13. bis 21. August 2014).

Sonntag, 14. August 2016

Fenster #50

Fenster #49

αρχή



Donnerstag, der 14. August 2014


[317 / 7]
Und als sie auf dem Trottoir vor einer Bar noch einen Wein tranken, da wurde Hans Köberlin bestohlen, als er für einen Moment das Rechnungsschälchen mit dem Zwanzigeuroschein darin aus den Augen ließ. Man näherte sich also wieder der Welt. Hans Köberlin mußte an de Sicas Film denken* und an die eventuelle (wenn der Dieb nicht bloß amoralisch war) Ansicht des Diebes, daß wer sich um zwanzig Euro in einer Bar erleichtern lassen konnte, noch nicht ganz am Ende sein konnte und immer noch besser dran war als er, der sie stehlen mußte.


* Natürlich ist Ladri di biciclette (1948) gemeint.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXIII [Transfer retour], 13. bis 21. August 2014).

Samstag, 13. August 2016

»It is the evening of the day …«

Mittwoch, der 13. August 2014


[316 / 8]
Und Hans Köberlin war es, wie es Peter Handke einmal gewesen, als der die Stadt der Liebe hatte verlassen müssen, nämlich »als müßte ich die Welt verlassen«,* oder es war ihm so wie Stefano D’Arrigo über jenen alten Strandvagabunden und Verehrer der Feminotinnen geschrieben hatte, als der seinen Blick vom Meer abgewandt hatte, nämlich da sei es gewesen, als hätten seine Augen in diesem Blick all ihr Licht verbraucht.**


* Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt am Main 2007, S. 161.
** Vgl. Stefano D’Arrigo, Horcynus Orca, Frankfurt am Main 2015, S. 161.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXIII [Transfer retour], 13. bis 21. August 2014).

Freitag, 12. August 2016

Fenster #48 (zu Antikem)

Dienstag, der 12. August 2014


[315 / 9]
Hans Köberlin realisierte nicht wirklich, was gerade geschah, er agierte nur. Als er die erste Bücherkiste zu packen begann, schlug er willkürlich den 39. Band seiner Ausgabe der Comédie humaine auf und las: »Mais qui, dans les crises de sa vie, n’aime pas à écouter les pressentiments, à se balancer sur les abîmes de l’avenir?«*


* Es war aus Maître Cornelius. Dies war eine der schwächeren Erzählungen, fand Hans Köberlin. Gelungen war die emblematische Figur des Geizigen, der sich somnambul selber bestahl und am Tag nicht mehr wußte, wo er seine Beute versteckt hatte. Maître Cornelius wurde zum Opfer seiner selbst.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).

Donnerstag, 11. August 2016

Fenster #47

Fenster #46

Fenster #45

Montag, der 11. August 2014


[314 / 10]
Und die Brüder an diesem Tag vor 151 Jahren …
Man sagt, daß der physische Mensch sich alle sieben Jahre erneuert. Erneuert sich der moralische Mensch nicht öfter? Und wie viele Menschen sterben in einem Menschen vor seinem Tod?*

* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 3, S. 608.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).

Mittwoch, 10. August 2016

Kausalitäten

die philosophen beharren darauf, daß man sich gründe vorstellen kann, die man sich nicht vorstellen kann.

(Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 247).

Fenster #44

Sonntag, der 10. August 2014


[313 / 11]
Hans Köberlin hatte sich um sieben Uhr von der Weckfunktion seines Taschentelephons wecken lassen. Leise schlich er sich von der Frau, ging auf die Toilette, putzte sich die Zähne, zog sich an, nahm die Badesachen und ging los. Er hatte sich nämlich vorgenommen, heute, drei Tage vor seinem Abschied, entlang der durch die gelben Bojen beschriebene Linie durch die gesamte Bucht vor dem Playa La Fossa-Levante zu schwimmen. Die Sonne stand bereits heiß am Himmel, auf der Promenade waren aber trotz der Uhrzeit und der senilen Bettflucht kaum Leute unterwegs, die Strandreiniger hatten ihre Arbeit bereits aufgenommen und Hans Köberlin suchte sich gleich am Anfang der Bucht, dort wo die Felsen aufhörten, einen Platz für seine Kleidung, zog sich um und stieg in das wunderbare Wasser. Langsam und mit gleichmäßigen Zügen schwamm er auf die erste gelbe Boje der Bucht zu. Dabei kam ihm der Gedanke, was wohl wäre, wenn er nach dreiviertel der Strecke draußen, nicht bemerkt von den Gemeindearbeitern und den einzelnen Passanten auf der Promenade und am Strand, einen Schwächeanfall bekommen würde … Bei Hans Köberlin hatte sich nämlich während seiner jetzt 313 Tage seit seinem Aufbruch die Absicht ins Konträre verkehrt: nicht mehr jener Protagonist aus Gattaca, der sich keine Kraft für die Rückkehr aufsparen wollte,* war ihm vor Augen, Hans Köberlin wollte zurückkehren, wollte zurück mit der Frau, mit der er glücklich war.


* In der entsprechenden Fußnote zu Kafkas Diktum: »Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.« (Franz Kafka, Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg; in: Gesammelte Werke, hrsg. von Max Brod, Frankfurt am Main 1950ff., Bd. 7, Prosa aus dem Nachlaß, S. 39), schrieben wir im Prolog: »Wie auch der Protagonist von Gattaca (Andrew Niccol, 1997) sich nur deshalb behaupten konnte, weil er seine ganze Kraft in die Zukunft ausrichtete, ohne sich Reserven für einen Rückweg vorzubehalten.« Auch da war es um das Schwimmen im Meer gegangen …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).

Dienstag, 9. August 2016

Bang Bang


Fenster #43

Rot (nach der Natur)

Fenster #42

Samstag, der 9. August 2014


[312 / 12]
Bei seiner Lektüre der Aufzeichnungen des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares stieß er einmal wieder auf eine Passage, die bei ihm, Hans Köberlin, nur Unverständnis hervorrief. Jener schrieb nämlich, es sei ein und dasselbe, ob man einen Körper berühre, sehe oder sich schlicht an ihn erinnere.* Nein, nein und tausendmal nein, hier wie nirgends sonst trennte, wie er selber schmerzvoll in den vergangenen Monaten erfahren, eine unüberbrückbare Barriere Imagination und Haptik.


* Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 355. Die Rede war selbstverständlich vom weiblichen Körper.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).

Montag, 8. August 2016

Fenster #41

Freitag, der 8. August 2014


[311 / 13]
Nach dem Abschied vom ›Dolphin’s Pub‹ gingen sie die Hauptstraße hoch zur Altstadt und durch die Altstadt zu der Straße, in der die encierros stattfinden sollten. Sie wußten nicht genau, was sie erwartete, sie hatten Bilder von Pamplona im Sinn* und trafen folgendes an: die Bürgersteige waren mit Gittern, deren Stäbe einen solchen Abstand hatten, daß ein Mensch aber kein Stier hindurchkommen konnte, von der Straße abgetrennt, und auch Anfang und Ende dieser Straße, dort wo die Wagen von Polizei und Rettung auf ihren Einsatz warteten, waren mit diesen Gittern versperrt. Die Gitter an den Bürgersteigen waren mit Brettern überdacht, und auf diesen mit Geländern versehenen und durch Leitern zugänglichen Brettern hatten sich die Familien, die diesen Platz gekauft, gepachtet oder seit Generationen vererbt, eingerichtet. Die Frau und Hans Köberlin gingen bis etwa zur Mitte der Straße, Hans Köberlin kaufte zwei Becher mit Wein und sie stellten sich hinter die Gitter, um mit den anderen auf den Beginn der Veranstaltung zu warten.


* Hans Köberlin imaginierte natürlich noch jene Szene mit Daidalos’ Gestell, in welcher Minotauros gezeugt worden war …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).

Sonntag, 7. August 2016

Fenster #40

Donnerstag, der 7. August 2014


[310 / 14]
Und Jules hatte heute vor 150 Jahren einen geglückten Abend gehabt …
7. August – Heute abend war Ball im Casino. Sie hatte ein tief ausgeschnittenes Mieder angezogen, jene hübsche Entblößung, die den zarten Zwischenraum der Brüste zeigt.
Wir sind zusammen ausgegangen. Sie war halb glücklich über ihre Aufmachung wie ein Kind, halb verwirrt, wie jemand, der sich nackt fühlt. Sie bemühte sich mit der freien Hand eine kleine Jacke zu schließen, die sie darüber trug, damit man nicht zu viel sehen sollte, ohne sie jedoch ganz zu schließen. Als wir auf der Straße gingen, rief sie nach einer ihrer Freundinnen, die im Erdgeschoß am Fenster saß und bat sie um eine Nadel, wobei sie leise zu mir sagte: »Peinlich, seine Haut auf der Straße zu zeigen …«
Wir tranken im Salon eine Tasse Kaffee, währenddessen die Nadel, ich weiß nicht wie, aufging. Sie trug ein weißes Mieder mit blauen Verzierungen. Ein Leibchen aus Batist unter dem das Rosige des Fleisches sichtbar wurde, verbarg noch das Bißchen an sichtbarem hellen Fleisch. Eine Kette aus vergoldetem Filigran, die in der Halsgrube hing, lief zwei oder drei Mal darüber hin. Zwischen ihre beiden Brüste hatte sie eine hellrosafarbene, purpurrot geäderte Nelke gesteckt, die das blühende Leben ihres Fleisches hervorhob und die Nelke wie eine künstliche Blume erscheinen ließ.
Sie roch an der Nelke, indem sie den Kopf senkte und die Grube zwischen den Brüsten vertiefte. Von Zeit zu Zeit hatte sie jenes träge Händeverschränken, das unter dem Rosigen ihrer Finger das matte Weiß ihrer Haut zeigte und verbarg. Einmal zog sie die Nelke aus ihrem Busen, roch lange mit geweiteten Nasenflügeln daran, reichte sie mir dann wie etwas, das sie nicht mehr wollte, und sagte zu mir: »Riechen Sie mal, ich liebe diesen Duft. Zu der Zeit, als ich künstliche Blumen machte, für Kirchen, wissen Sie, habe ich immer eine getrocknete Nelke in meine Nelkenblüten gesteckt.«
Es ist erstaunlich, wie wir, die Männer, obwohl wir nichts von einer Frau verlangen oder ersehnen, doch glücklich sind, daß die Freundschaft dieser Frau irgendwie an Liebe erinnert.*

* Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 4, S. 95f.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).

Samstag, 6. August 2016

Fenster #39 (antik)

Mittwoch, der 6. August 2014


[309 / 15]
Und während Hans Köberlin seine Traumerinnerungen niederschreib, da wurde ihm bewußt, daß dies heute sein letzter ganzer Mittwoch hier sein würde …*


* Man erinnere sich …: an einem Mittwoch war er mit der Frau aufgebrochen …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).

Freitag, 5. August 2016

Fenster #38

Dienstag, der 5. August 2014


[308 / 16]
Auf der Toilette der hinteren Wohnung las er während seines morgendlichen Rituals bei Blumenberg: »Und genützt hätte ihm nicht einmal das Wahre, denn die Bedingungen, unter denen es vielleicht wahr gewesen ist, waren nur die jenes Augenblicks, jener Stunde, jener Tage in Aranjuez, die immer zu Ende sind, wenn das Stück zu spielen beginnt.«* Und Hans Köberlin fragte sich, ob er sein Aranjuez – Gegenwärtigkeit jenseits von Sorge und Langeweile** (wobei es bei ihm stets jenseits der Sorge war, den Langeweile hatte er so gut wie nie) – heiterer verlassen würde und ob nun noch einmal sein Stück beginnen würde …


* Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 215.
** Vgl. ebd., S. 217.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).

Donnerstag, 4. August 2016

Montag, der 4. August 2014


[307 / 17]
Die Frau setzte sich zum Arbeiten in den Patio an den kleinen runden Tisch unter der ausgefahrenen Markise, Hans Köberlin zum Lesen und Schreiben an seinen Lese- und Schreibtisch (striptease table); aus dem Radio in der Küche hörten beide Mahlers Fünfte. Es war so heiß wie noch nie (hatten wir das bereit einmal geschrieben?), eine angenehme trockene Hitze, die allerdings müde machte. So traf man sich im Schlafzimmer und hielt, zu müde sogar zum Vögeln, eine Siesta. Ganz tief sackte Hans Köberlin ab, tief und traumlos. Später machten sie sich zum Schnorcheln in die Cala Calalga auf. Es war sehr angenehm unter Wasser,* man hatte bloß auf die Leinen der Angler zu achten.


* Underwater Love (Smoke City, 1994) …
This must be underwater love
The way I feel it slipping all over me
This must be underwater love
The way I feel it
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).

Mittwoch, 3. August 2016

Sonntag, der 3. August 2014


[306 / 18]
Die Herausgeber und Kommentatoren merkten an: »An vielen Stellen seines Werkes weist Borges darauf hin, daß alle Menschen entweder als Platoniker (sie sehen Abstraktes, Gattungen: den Wald) oder als Aristoteliker (sie sehen Konkretes, Individuen: einzelne Bäume) geboren werden.«* Hans Köberlin bezeichnete sich selber nach dieser Unterscheidung als platonischen Aristoteliker oder, je nachdem, als aristotelischen Platoniker. Mit Das Abstrakte, das Konkrete hatte der Busenfreund seine Rezension des ersten Romans von Hans Köberlin betitelt … ja, der Busenfreund: »suyo fue el ejercicio generoso de la amistad genial.«**


* Jorge Luis Borges, Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1991ff., Bd. 5, S. 167.
** Ebd., Manuel Peyrou, Bd. 14: Rose und Münze, S. 240. Der komplette Titel war übrigens: Das Abstrakte, das Konkrete – und das Gelungene. Wie es Hans Köberlins Roman gelingt, den Bruch zwischen innerer und äußerer Welt stimmig zu erzählen, ohne ihn zu glätten. Der Busenfreund war auch ein Freund langer Titel … (vgl. auch vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 481ff.).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).

Dienstag, 2. August 2016

Samstag, der 2. August 2014


[305 / 19]
Der Autor Viaud hatte am Sonntag, dem 10. Februar 1884 Edmond von einem Matrosen, der bei stürmischer See über Bord gegangen, erzählt. Man hatte dem Unglücklichen zwar noch einen Rettungsring zuwerfen können, aber keine Möglichkeit gesehen, ihn wieder an Bord zu holen. Was Hans Köberlin an dieser tragischen Geschichte besonders entsetzte war der Umstand, daß der Schiffspfarrer dem aufgegebenen Unglücklichen von der Brücke herab die Absolution erteilt hatte …


* Vgl. Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 7, S. 292. Hans Köberlin erinnerte sich an seine nächtliche Überfahrt von Palermo noch Neapel im Jahre 2009, als er mutterseelenallein an der Reling gestanden und um ihn herum nur absolute Schwärze und Gischt … – Im gleichen Eintrag befand sich auch noch eine schöne Verfluchung: jemand sollte »des Handschlags ehrbarer Leute beraubt werden« (ebd.), wobei natürlich »ehrbar« erst noch neu definiert werden müßte.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).

Montag, 1. August 2016

Fenster #37

Freitag, der 1. August 2014


[304 / 20]
»Die Gescheiterten sind immer noch die besten Utopisten«, hatte Judith Schalansky in ihrem Atlas der abgelegenen Inseln im Kontext von Tristan da Cunha und Arno Schmidts Vorliebe für dieses Eiland ‒ als seiner Möglichkeit der Verwirklichung seiner Insel Felsenburg ‒ behauptet.* »Als aufrichtiger Gescheiterter ist man im Spätkapitalismus über die Sehnsucht nach Utopien hinaus«, entgegnete dem trotzig Hans Köberlin.


* Judith Schalansky, Taschenatlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde, Frankfurt am Main 5. Aufl. 2014, S. 76f. Wir hatten, wenn wir uns recht entsinnen, bereits einmal Sean Connery zitiert …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).