Sonntag, 30. Dezember 2018

Freitag, den 15. August 2014***

Und wie sie da so auf dieser Bank auf einem Absatz der unscheinbaren Treppe mit dem belanglosen Ausblick auf gewöhnliche Wohnhäuser, eine größere Straße, eine Station der Untergrundbahn und den bewaldeten Hang eines Hügels saßen und ihren in dem kleinen Laden gekauften Imbiß verzehrten (Bier, weiße Wabbelbrötchen, Wurst, Käse und einen Pfirsich), da gelang es Hans Köberlin noch einmal – nicht ganz unverhofft, denn solche Orte gehörten zu Hans Köberlins bevorzugten Topographien –, aus der Zeit zu fallen, und wie Álvaro de Campos empfand er …

Ah, embalado
Na ideia tão confortável de hojea inda não ser amanhã,
De pelo menos neste momento não ter responsabilidades nenhumas,
De não ter personalidade propriamente …*

Immer wieder sollte er nach seiner Rückkehr an diesen aus der Zeit gefallenen Moment auf dieser Bank auf einem Absatz der wirklich sehr unscheinbaren Treppe denken, deshalb möchten wir hier einmal wieder ein Bild einfügen, nämlich eines von dieser Treppe, leider von Hans Köberlin erst unterhalb des Absatzes mit der Bank gemacht …**



* Fernando Pessoa, Álavaro de Campos. Poesias · Gedichte, Zürich 1987, S. 242.
** Die Frau, die man hinabgehen sieht, ist die Frau, die natürlich für diesen glücklichen Augenblick noch unabdingbarer war als die Topographie.
*** Siehe auch hier und hier und vor allem hier.

Sonntag, 16. Dezember 2018

La caricia más profunda

Ein Mann versank unbemerkt von seiner Umwelt immer tiefer in den Boden (er versank nur in den Erdboden, nicht ins Bett oder in das Bidet, auf das er stieg, um sich die Zähne zu putzen). Die titelgebende tiefste Liebkosung geschah, als er immer tiefer sinkend bereits ganz versunken mit den Fingerspitzen der linken Hand die Schuhsohlen seiner Verlobten streichelte. Er hatte in diesem Augenblick Mitleid mit ihr, deren Armut er am Zustand der Schuhsohlen erkannte. Sehr poetisch!

(Julio Cortázar, Cuentos Completos, La vuelta al día en ochenta mundos (1967)).

Samstag, 15. Dezember 2018

El otro cielo

Die Geschichte eines rite de passage: ein künftiger Börsianer mit Verlobter und künftiger Familie floh vor der schlechten Gegenwart und der trostlosen Zukunft temporär in das Halbweltmilieu der Passagen mit seinen Huren. Ein Frauenmörder, der sein Unwesen trieb und der Krieg (ich dachte, es wäre der erste, aber es war der zweite) belasteten die erschlichene Freiheit. Am Ende war der Mörder gefaßt und der Krieg gewonnen und der Protagonist in bürgerlichen Verhältnissen. Der Plot war bekannt, aber die Erzählung war sehr gelungen fesselnd.

(Julio Cortázar, Cuentos Completos, Todos los fuegos el fuego (1966)).

Todos los fuegos el fuego

Zwei Geschichten alternierend erzählt: ein römischer Prokonsul hatte in der Arena einen tödlichen Zweikampf für den Gladiator, bei dessen Anblick seine Frau Begehren empfunden, arrangiert, und eine von ihrem Freund mit einer Freundin betrogene Frau beging mit Tabletten Selbstmord, während sie mit dem untreuen Freund telephonierte. Am Ende gingen die Arena und der Mann mit seiner neuen Geliebten in Flammen auf. Es lag auf der Hand, was das Feuer aller Feuer war … Mir fiel Faulkners Doppelgeschichte ein, The Wild Palms und The Old Man or If I Forget Thee Jerusalem. Bei der ersten führte eine Abtreibung zum Untergang eines Liebespaares, bei der zweiten eine zufällige, emotional unbeteiligte Geburtshilfe zum gleichgültigen Weiterlaufen der Welt.

(Julio Cortázar, Cuentos Completos, Todos los fuegos el fuego (1966)).

Freitag, 14. Dezember 2018

Empirie, 14. Update

¡Hans Koberlin vive! in Daten (der Stand von heute):
  • Stand des Manuskripts:
    • Seiten: S. 1.238 von ca. 1.800 Seiten
    • Fußnoten: 3.772
  • Stand der Überarbeitung:
    • Seiten: S. 1.016 von ca. 1.800 Seiten
    • Fußnoten: 3.033
    • Kapitel: XIII (= Zweites Intermezzo – oder: Die Hälfte der Zeit des Exils) von XXIV Kapiteln nebst einem Anhang
    • Tag der Überarbeitung: Freitag, der 7. März 2014, der 157. von 324 konkreten und von allen möglichen Tagen
  • Der Beginn der Handlung ist mit Analepsen der Sonntag, der 23. Oktober 4004 vor unserer Zeitrechnung, 9 Uhr vormittags,* ohne Analepsen mit dem Herbst 2012.
  • Das Ende der Handlung fällt mit den Prolepsen mit dem Ende der (oder bloß einer?) Welt zusammen, ohne Prolepsen mit dem Frühjahr 2016.
  • Beginn der Niederschrift: Mittwoch, den 2. Oktober 2013
  • Ende der Niederschrift: noch nicht abzusehen

* (= die Fußnote 5 auf S. 7) »Non in tempore sed cum tempore Deus creavit caela et terram.« (Augustinus).
Nun: »In der Schiffsbibel von Charles Darwin auf der ›Beagle‹, mit der er von 1831 bis 1836 die Welt bereiste, stand das Datum der Weltschöpfung eingetragen: 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt, 9 Uhr vormittags.« (Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 47). Das war ein Sonntag, am folgenden Freitag war er, der Schöpfer, fertig, und auch das jüngste Gericht soll nach christlichen Vorstellungen auf einen Freitag fallen, ein Datum haben wir gerade nicht zur Hand.
»Soldats, quarante siècles vous regardent!«
»L’ouvrage que j’ai entrepris aura la longueur d’une histoire«, hatte Balzac stolz in seinen Avant-Propos de La Comédie humaine postuliert.

Wird aktualisiert!

Sonntag, 9. Dezember 2018

Instrucciones para John Howell

Ein Theaterbesucher wurde in der Pause genötigt, in dem Stück eine Rolle zu übernehmen. Man sicherte ihm freie Gestaltung zu, was sich aber nicht realisieren ließ, denn es gab die Zwänge des durch den Theaterbesuch geschlossenen ästhetischen Vertrags mit dem Publikum, dann die Zwänge des Stücks (die Handlungslogik), dann noch die Absichten derer, die den Zuschauer genötigt hatten, und schließlich das Ungewohnte der Situation. Dies alles erschien mir als das eigentliche Thema der Erzählung: das Gebundensein in einer eigentlichen Freiheit. In dem Stück ging es um die Ermordung der Protagonistin, und am Ende floh der zum Mitspielen Genötigte mit seinem Nachfolger.

(Julio Cortázar, Cuentos Completos, Todos los fuegos el fuego (1966)).

Sonntag, 2. Dezember 2018

Fenster #224 (Centre de …, Freitag, den 15. August 2014)

La isla al mediodía

Diese Erzählung war von Anfang an zu durchschaubar. Ein Stewart bekam von seinen Flugzeugen aus einen Faible für eine griechische Insel. Er plante seinen Urlaub, war da – aber da merkte man schon, daß etwas nicht stimmte –, er sah von dort das Flugzeug, es stürzte ab … etc. Am Ende lag er tot am Strand.

(Julio Cortázar, Cuentos Completos, Todos los fuegos el fuego (1966)).

Samstag, 1. Dezember 2018

Fenster #223

La Señorita Cora

In der Manier Faulkners gingen verschiedene Stimmen ineinander über: die eines fünfzehnjährigen Patienten, seiner Mutter, der titelgebenden Krankenschwester, ihres Geliebten (»Die Wahrheit ist, es macht mir nicht viel aus, ob ich die Frauen verstehe oder nicht. Hauptsache man wird von ihnen geliebt, das vor allem zählt.«), der Ärzte … Zuerst hielt ich es für eine willkürliche Spielerei, aber dann kam ich dahinter, daß die verschiedenen Stimmen den eigentlichen Protagonisten der Erzählung ergeben (wie bei dem von Borges überlieferten Mythos, bei dem die vielen Vögel den einen sagenhaften Vogel, den sie suchen, ergeben): den Tod, oder vielmehr: das Sterben. Der Junge kam mit einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus, doch bei dem Routineeingriff entdeckte man etwas Bösartiges. Der frühreife Junge schämte sich, der sehr jungen Schwester ausgeliefert zu sein, das zog sich bis zur letzten Begegnung hin. Cortázar gelang hier eine meisterhafte Dramatik.

(Julio Cortázar, Cuentos Completos, Todos los fuegos el fuego (1966)).