Der Prozeß der (Selbst-)Sozialisation kann mithin als Prozeß der Bildung von Erwartungen begriffen werden, die ihrerseits dann regulieren, welche Ereignisse für das System möglich sind.
Erwartungen haben ihre wichtigste Eigenschaft darin, daß sie enttäuscht werden können. Sie markieren das Erwartete als kontingent; und wenn etwas in der Modalität des Notwendigen erwartet wird, so ist Notwendigkeit nichts anderes als Alternativenlosigkeit, als negierte Kontingenz. Es ist also nicht die Stabilität, sondern gerade die Labilität der Strukturen, die ihre Funktion im Persönlichkeitsaufbau und in der Genese von ich-Bewußtsein erklärt.
Erwartungen ermöglichen nämlich einen Doppeltest: Wenn sie erfüllt werden, kann dies kein Zufall sein, sondern indiziert den Realitätswert der Erwartung. Wäre die Erwartung ein rein internes Konstrukt, wären Erfüllung und Enttäuschung gleich wahrscheinlich. Man kann an der Bestätigung von Erwartungen also ablesen, daß man richtig, das heißt realitätsgerecht, erwartet hatte (ohne daß daraus folgen würde, daß die Erwartung ein »Bild« der Umwelt in das System transferiert). Aber auch die Enttäuschung von Erwartungen kann als Test benutzt werden. Wenn die Erwartung trotz Enttäuschung durchgehalten werden kann, beweist dies Ich-Stärke. Man bildet aus diesem Anlaß Sollwerte und Normen und bescheinigt sich selbst die Kraft, die projektierte Erwartung kontrafaktisch auch im Enttäuschungsfalle durchzuhalten.
(Niklas Luhmann, Sozialisation und Erziehung; in: Schriften zur Pädagogik, hrsg. und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt am Main 2004, S. 115).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen