Herbert Neidhöfer, homme de lettres
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Freitag, 6. November 2015
Fragmente zu Kapitel XIII [Ein Herbsttag in der Hauptstadt]
(…)
Die Einübung in den Herbst war für Clemens der schwierigste Übergang im Ablauf der Jahreszeiten.
Während des Studiums in der (eh fast ganzjährig grauen) Hansestadt hatte es eine – für grippale Infekte gleichfalls sehr anfällige – Übergangszeit gegeben, als der Sommer bereits endgültig vorbei war (andere Kriterien, denn damals gab es für Clemens keine Gelegenheiten zum Schwimmen in Seen und Flüssen), das Semester aber noch nicht angefangen hatte. Betrat man dann wieder den Elfenbeinturm, dann wußte man, es war Herbst; man sah es nicht zuletzt daran, wie die Kommilitoninnen, die man nur spärlich mit durchsichtigen Fetzchen angetan in die vorlesungsfreie Zeit verabschiedet hatte, nun bekleidet waren.
… diese Geschichte von dem Zugvogel, der den Abflug verpaßt hatte. Zuerst hatte er den Herbst nicht ernst genommen, die Bewohner eines Altenheims versorgten ihn mit Krümeln und kleingeschnittenen Käserinden, aber dann, nach den ersten Frostnächten, da merkte er, daß er zusehen mußte, daß er hier wegkam. Und er flog schließlich alleine los. Über den Alpen verendete er elendiglich an Auszehrung und Kälte.
Eigentlich mochte Clemens den Herbst, beziehungsweise: er mochte eine bestimmte Art von Herbst, zum Beispiel einen Novembertag am baltischen Meer. Dann wurde ihm plötzlich bewußt, daß er sich ja selber auch in seinem eigenen Herbst befand, nämlich dem Herbst seines Lebens. »Zeit, die Ernte einzufahren!« sagte er sich darauf forsch. Hatte er denn überhaupt, so fragte er sich nach einer Weile weniger forsch, in der Metapher bleibend, weiter, hatte er denn überhaupt ausgesät?
(…)
Wie alles, so war auch Clemens’ Herbst eine Konstruktion Clemens’, die eines Tages dastand, vor der (der Konstruktion) er den Herbst nicht als etwas wahrgenommen, denn für all die Rituale (die klimatischen, traditionellen und pragmatischen, als da wä-ren Stürme, Färbung und Abfallen des Laubes, die Kirmes, diverse Ernten, vor allem die Weinlese et cetera) war er vergleichsweise unempfänglich. Er mußte wie der erste Mensch in seinen ersten Herbst selbst hineintreten, beziehungsweise wie gesagt: er mußte sich seinen ersten Herbst erfinden. Clemens ›Urherbst‹, der mit seiner Stimmung alle folgenden Herbste imprägnierte, war – wer wird sich darüber wundern?! – jener melancholische Herbst nach seiner Initiation in der Kreisstadt durch jene blanche fille aux cheveux roux. Melancholisch war dieser Herbst, weil jene blanche fille aux cheveux roux begann, sich dem immer noch schwer verliebten und nun dazu noch sexuell unersättlich gewordenen Clemens zu entziehen. Es war, wie Clemens der Reifere später resümierte, eine Konstellation wie aus einem Roman von Balzac oder Flaubert gewesen: die (relativ) erfahrene Frau läßt sich mit einem noch halben Knaben ein und zeigt ihm die Künste der Liebe, aber der halbe Knabe ist halt noch ein halber Knabe, und wenn es dazu noch – was die Künste der Liebe betraf – eine auf den Geschmack gekommene Raupe Nimmersatt war … Noch später und reifer sagte sich Clemens, daß seine blanche fille aux cheveux roux ganz schön neurotisch gewesen war.
Marlow: »On all the round earth, which to some seems so big and that others affect to consider as rather smaller than a mustard-seed, he had no place where he could – what shall I say? – where he could withdraw. That’s it! Withdraw – be alone with his loneliness.«*
Wann immer Clemens scheinbar vernünftig wurde, machte er dem Tod ein Angebot, ihn leichter zu holen. Indem er die Grausamkeit der Realität scheinbar heroisch ertrug und dabei scheinbar über sich selbst herauswuchs, ließ er sich doch eigentlich von niemandem bemerkt und unsichtbar für seine Umwelt gehen, lockerte den Widerstand und gab sanft und in einer melancholischen Grundstimmung nach. Allein: der Tod kam nicht, Clemens spürte Schmerzen, von denen er annahm, daß sie von seinem Herzen oder seiner Leber (die Quittung!) kommen mußten, aber es geschah nichts. Seltsame Einübung ins Nichts, dachte er, anscheinend kann man sehr langsam und unauffällig sterben, so daß das Sterben vom Leben nicht mehr zu unterscheiden ist.
»Niemals schwerer von jemand zu scheiden als im Spätherbst, wo man beisammen bleiben will.«** – Hier hat der Autor anscheinend vergessen, daß er dieses Zitat bereits als Motto verwendet hat, oder er ist bewußt von seinem ungeschriebenen Gesetz, Motti niemals nochmals im Text zu zitieren, abgewichen.
* Joseph Conrad, Lord Jim, Chapter 15.
** Jean Paul, Ideen-Gewimmel. Texte und Aufzeichnungen aus dem Nachlaß, hrsg. von Kurt Wölfel und Thomas Wirtz, Frankfurt am Main 1996, S. 218.
(aus Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius. Fragment, Berlin 2013, S. 309ff.).
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