Montag, 19. Oktober 2015

Samstag, der 19. Oktober 2013


[18 / 306]
Hans Köberlin nahm nach einem wie gewohnt abgelaufenem Tagesablauf am Abend wieder bloß einen kalten Imbiß zu sich und ging dann …
Under what guidance, following what signs?
… a bispherical moon revealed in imperfect varying phases of lunation through the posterior interstice of the imperfectly occluded skirt of a carnose negligent perambulating female …*
… in das Zentrum des Ortes zu den fiestas moros y cristianos y santísimo cristo.
Er war in dem Glauben, die sich über eine Woche erstreckenden Festivitäten, an deren Ausrichtung über die Hälfte der einheimischen Bevölkerung des Ortes beteiligt schien (eine wohl über Vereine organisierte sozial inkludierende Veranstaltung), erinnere an ein lokales Kapitel aus der Reconquista,** aber es ging um eine bloß lokale Angelegenheit, nämlich um maurische Freibeuter, die am 22. Oktober 1744 die wegen einer Seuche verwaiste Stadt überfallen wollten. Wundersamer Weise, was hieß: mit Unterstützung des lokalen Schutzpatrons, soll es einem hiesigen Jüngling namens Caracol gelungen sein, die für ihn eigentlich viel zu schwer zu bewegenden Stadttore vor dem Ansturm der Freibeuter zu schließen, eine Errettung-der-Stadt-Legende, wie es sie oft gab, sogar mit Federvieh und Eselsgeschrei. Später, als Freunde ihn besuchten und mit ihm per Auto das Hinterland erkundeten, stellte er fest, daß es in jedem Ort hier fiestas moros y cristianos mit einer entsprechenden Heiligenlegende gab und daß diese fiestas wohl das waren, was man in der Region seiner Herkunft ›Kirmes‹ nannte. Komisch das, mit dem Glauben und dem Wunderglauben … eine Ansammlung von eigentlich unglaublichen Geschichten …
Was Hans Köberlin dann in der Hauptladenstraße des Ortes sah, das war der gut dreistündige Einzug der Mauren und der Christen. Es waren, wie gesagt, wohl Vereine oder Ligen, die sich wie die Karnevalsvereine in Hans Köberlins Herkunftsland das ganze Jahr über auf diese Festivitäten vorbereiteten, Sitzungen abhielten, sich in mehrere Lager spalteten, Intrigen spannen, Machtkämpfe ausfochten, Themen und Motti kreierten und schließlich damit begannen, alles für den Umzug – Kostüme, Wagen et cetera – bastelnderweise nach Feierabend und in der sonstigen Freizeit, regelrecht sprichwörtlich in jeder freien Minute …
»Der Verein oder ich!«
… zu erstellen.
Die Christen kamen zuerst. Eine jede Gruppe (auch später dann bei den Mauren) bestand aus einem Musikzug, tanzenden und das Publikum miteinbeziehenden ihrem Thema oder Motiv entsprechend maskierten Leuten zufuß und als Abschluß dem Motivwagen. Man erkannte den kreativen Willen und die große Not, originell sein zu müssen und die dazu an den Haaren herbeigezogenen Assoziationen zum Thema (die Sozialstruktur der Christen im 18. Jahrhundert, die Mode der Christen im 18. Jahrhundert, Offensiv- und Defensivbewaffnung der Christen im 18. Jahrhundert, der Glaube der Christen im 18. Jahrhundert … et cetera et cetera … und das gleiche dann bei den Mauren), die unseren Assoziationen zum Thema bloß um weniges nachstanden (die sexuellen Praktiken der Christen und Mauren im 18. Jahrhundert …). Hans Köberlin dokumentierte das Geschehen fleißig, doch dann war der Akku seines Taschentelephons leer, was schade war, denn die nach den Christen kommenden Maurenmädels zeigten wesentlich mehr Haut.***
Hans Köberlin bewegte sich am Rand des Umzugs gegen die Richtung des Umzug die ansteigende Straße hinauf bis zu jenem Platz, an dem er mit der Frau gesessen hatte (Memories …), erstand dort einen Wein und goutierte den Umzug. Es war wahrscheinlich wirklich das gleiche wie beim Karneval in Noberk oder in der Kreisstadt oder in der Stadt der Narren oder in der Domstadt, aber weniger preußisch und außerdem exotisch, wie gesagt: mit viel Maurinnenhaut bei noch über 20 °C, da kamen die Funkenmariechen mit ihren fleischfarbenen Strumpfhosen bei Temperaturen (wenn es schlecht lief) um den oder nur knapp über dem Gefrierpunkt nicht mit, mochten sie die Beine noch so hoch heben und unter ihren kurzen Röckchen die wegen der Kälte etwas zu groß geratenen Schlüpfer**** zeigen. Außerdem wollte Hans Köberlin sich exaltieren, denn er spürte, daß sein Gemüth nicht so stabil war, wie er es gerne gehabt hätte.
Man hatte anscheinend nicht genug Musikgruppen, denn ständig sah man – wie in jenem Beispiel, welches die Goncourts zur Illustration bei ihrer Widerlegung des Glaubens an die Seelenwanderung herangezogen hatten – bereits bekannte Gesichter mit ihren Instrumenten entgegen der Umzugsrichtung nach oben zu dem Startpunkt des Umzugs laufen, um sich dort vor einer Gruppe erneut zu formatieren.
Der Ausgang der in der Legende verhandelten Geschichte stand ja fest: Gottvater, Gottsohn und Gottheiligergeist und ihre Anhänger siegten über Allah***** und seinen Propheten und deren Anhänger,****** und Hans Köberlin fragte sich, was einen wohl bewog, wenn er schon in einen Trachten- und Brauchtumsverein gehen wollte (oder mußte),******* sich auf die sicher nicht so gut reputierte Seite der Feinde und dazu noch der Verlierer zu begeben. Sicher, wie bereits gesagt, die Maurinnen zeigten mehr Haut, aber Hans Köberlin ging nicht davon aus, daß jemand der hiesigen männlichen und auch weiblichen (eine frivole Vorstellung …!) Bevölkerung dies als Motiv für seine Vereinswahl wirklich in Betracht zog. Vielleicht wurde ja gelost, nicht um das Ergebnis der Schlacht, sondern um die Zuteilung zu den Lagern …
Der Zug ging, wie gesagt, über gut drei Stunden und Hans Köberlin amüsierte sich also und ging anschließend in die Dependance der ›Tango Bar‹ südlich des Peñòn de Ifach an der Promenade der Playa Arenal-Bol (hatten wir bereits erwähnt, daß es eine solche gab?), um dort mit Blick auf das nächtlich tosende Meer noch einen Rotwein zu nehmen.


* James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 630f.
** Man erinnere sich: Moses (The Ten Commandments, 1956) & Ben Hur (1959) Charlton ›get your gun‹ Heston als El Cid (neben Sophia Loren, vgl. Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Aufl. 1996, S. 83f.: »In den Historienfilmen wie etwa Attila, flagello di dio (Pietro Francesci, 1954) oder, später, El Cid (Anthony Mann, 1961) ist sie (Sophia Loren) von einer mehr aristokratischen Ausstrahlung als Gina Lollobrigida (auf die kommen wir noch); sie ist nicht, wie diese, unbewußte Auslöserin, sondern denkende und handelnde Person im geschichtlichen Drama, und ihre erotische Triebkraft ist an moralischen Rastern gebrochen. War Gina Lollobrigida eine unschuldige Provokation gegen die Hierarchie die Männerwelt (… [das hier ausgelassene präsentieren wir unten, wenn es um Gina Lollobrigida geht]), so entwickelt sich der Loren-Typus zu einer Art der weiblichen Bestätigung des dynastischen Prinzips.«) … – Nebenbei bemerkt: es gab bei allen Vorbehalten gegen Heston drei wirklich gute Filme mit ihm, nämlich der weiter oben bereits erwähnte Film von Orson Welles, Touch of Evil (1958), Franklin J. Schaffners Originalversion von Planet of the Apes (1968) und, an der Seite von Edward G. Robinson, Richard Fleischers Soylent Green (1973).
*** Das wußte auch Mr Bloom an seiner Gattin zu schätzen: »That’s where Molly can knock spots oft hem. It is the blood of the south. Moorish. Also the form, the figure. Hands felt for the opulent.« (Joyce, Ulysses, a. a. O., S. 337).
**** ›Schlüpfer‹ oder ›Slip‹ …? Hm …: es klingt beides gleich gut …
***** »Drei gegen einen …: das ist gemein!« – Es wäre aus christlich dogmatischer Sicht natürlich eine Blasphemie, wenn man hier von einer numerischen Überzahl ausgehen würde. Borges war mit dem Trinitätsdogma hart ins Gericht gegangen und hatte von einer grausigen dreieinigen Gesellschaft und von einem eitlen theologischen Zerberus und von einem Fall von intellektueller Teratologie und von einer Mißgeburt, die nur das Grauen eines Alptraums gebären konnte et cetera gesprochen (vgl. Jorge Luis Borges, Diskussionen; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 2: Kabbala und Tango, Frankfurt am Main 1993, S. 176f.).
****** Hans Köberlin ging nicht davon aus, daß hier jedes Jahr im Oktober die Karten wie bei den Kriegsspielen in Roberto Bolaños El Tercer Reich neu (in Bolaños Roman allerdings nur scheinbar) verteilt wurden.
******* John Cale & Lou Reed, Songs for Drella (1990) …
When you’re growing up in a small town
When you’re growing up in a small town
When you’re growing up in a small town …
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

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