Nach 1977 und nach 1981 – 1997 war er (wie bei allem im Leben damals) im ersten Drittel steckengeblieben – vollendete Hans Köberlin zum dritten Mal die Lektüre des Ulysses, und er fühlte eine große Leere in sich, er spürte seine Zerrissenheit, die er über der Lektüre vergessen hatte können, es war ihm, als hätte man ihm eine Aufgabe genommen, nämlich die Aufgabe, ein aufmerksamer und liebevoller Leser zu sein, und er hätte am liebsten mit dem Roman gleich wieder von vorne begonnen, am Martello Tower …
Stately, plump Buck Mulligan came from the stairhead, bearing a bowl of lather on wich a mirror and a razor lay crossed. A yellow dressinggown, ungirdled, was sustained gently behind him by the mild morning air. He held the bowl aloft and intoned:»Trieste-Zürich-Paris, 1914-1921.« … sieben Jahre hatte also Joyce daran geschrieben … (er hätte das bei der Siebeneraufzählung in Telos ergänzen sollen): einmal einen langen Atem haben, sich nicht kirre machen lassen von der Welt (die Frau und die Freunde vertrauten doch seinem diesbezüglichen Talent) …
– Introibo ad altare Dei.
»Die Idee zu meinem Roman hatte ich am heiligen Abend 1988, und zuerst publiziert wurde er kurz vor dem heiligen Abend 2007, wobei ich nicht sagen könnte, ich hätte neunzehn Jahre daran gearbeitet, und wobei ich zu meiner Schande auch nicht sagen könnte, sein Zustand sei lege artis.«
Was das mit dem Frühstück wohl auf sich hatte, das hatte sich Hans Köberlin das ganze letzte Kapitel über gefragt, dann anschließend war er bei Nabokov auf eine plausible Erklärung gestoßen, nämlich daß Mr Bloom der Ansicht sei, sein Wissen um die und seine sillschweigend Duldung der Fortsetzung dieser schmutzigen Geschichte mit Blazes Boylan gebe ihm die Oberhand über Molly. Und auch Nabokov kam, wie auch Thirlwell, zu der Ansicht, Molly liebe Bloom, allerdings mit der Einschränkung, wenn sie überhaupt jemanden liebe. Natürlich hatte Nabokov recht, wenn er schrieb, der sogenannte ›stream of concousness‹ sei eine Kunstform und ein Bewußtsein arbeite nicht so rein sprachlich. Woher er wissen solle, warum er seine Gedanken denke, hatte sich der Protagonist von The Third Policeman gefragt …
Hans Köberlin hielt inne und schloß – quasi um sich zu lesen – die Augen (wie Mr Bloom einmal die Augen geschlossen hatte, um sich nach der Begegnung mit dem blinden Klavierstimmer selber in eine Blindheit zu imaginieren und derart die Haut auf seinem Bauch zu befühlen) …: das permanente von einem hohen Ton gekrönte Rauschen des Blutes in seinen Ohren, Pochen in seinen Schläfen, irgendwo fuhr ein Auto, der Nachbar hupte, ein Hund bellte und eine Frau schimpfte im hiesigen Idiom, Lichtflecken sobald man die Lider lockerte, Geflacker sogar hinter den geschlossenen Lidern, »als wir auf dem Rückweg der Wanderung durch die Siedlungen von Albir gingen, sahen wir in einem Hof an einem komplizierten und mit Stahlseilen verankerten Gerüst aus Stahlrohren ein Artisten-Trapez hängen« … die Assoziation aus The Pale King: Stoppelfeld – Mädchen, das sich die Achselhöhlen selten rasiert … und die Frau nochmals (nicht als Wort), hier (irrealer Eindruck, gewollt zu wollüstigen Vorstellungen imaginiert), die Hauptstadt (multimediale Erinnerungsfetzen, durchgangene Straßenzüge, Baustellen, Kräne in spätsommerlichen Abendhimmeln …), Geld = Zukunft (nonverbal als Gefühl von Sorge und Bedrückung und Ärger über sich selber), der Krafthorizont, sein ›als-ob‹ … »fucked yes damn well fucked too up to my neck« … Finnegans Wake war da wohl näher dran, weil es noch artifizieller als Ulysses war. Beide Werke, Ulysses und noch mehr Finnegans Wake, das empfand Hans Köberlin später beim Hören einer Lesung einmal mehr, waren eigentlich große Poeme, die man eher fachkundig rezitiert hören sollte, denn sie für sich und vor sich hin leise zu lesen, sie waren logische Endpunkte ihrer Kunst, die alles übrige zu Zeitvertreib machten … Hans Köberlin öffnete seine Augen wieder, schaute vor sich auf das geschlossene Buch und damit auf Jonathan Barrys Gemälde der Halfpenny Bridge und die am Rand des Einbands sich durch den intensiven Gebrauch ablösende Schutzfolie, und er sprang damit von seinem Bewußtseinsstrom, beziehungsweise von der versuchten Imagination eines solchen, ab.
»Was nun?«
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase V – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).
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