Ein witziger Kopf hat gesagt, man könne die Menschheit einteilen in Offiziere, Dienstmädchen und Schornsteinfeger. Diese Bemerkung ist meines Dafürhaltens nicht bloß witzig, sondern zugleich tiefsinnig, und es gehört ein großes spekulatives Talent dazu, eine bessere Einteilung zu finden. Wenn eine Einteilung nicht der Idee entsprechend ihren Gegenstand ausschöpft, so ist die zufällige in jeder Weise vorzuziehen, weil sie die Phantasie in Bewegung setzt. Eine leidlich wahre Einteilung kann den Verstand nicht zufriedenstellen, ist gar nichts für die Phantasie, weshalb sie immer zu verwerfen ist, mag sie auch für den täglichen Gebrauch viel Ehre genießen, weil die Menschen teils sehr dumm sind und teils sehr wenig Phantasie haben. (Sören Kierkegaard, Die Wiederholung / Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin, Reinbek 1961, S. 30f., dort auch die als Titel dieses Posts zitierte Weisheit).
Das galt nicht bloß für Einteilungen, sondern auf für repräsentative Aufzählungen, und Hans Köberlin erinnerte sich daran, was er in dem (auch außerhalb der von Clemens Limbularius herausgegebenen gesammelten Werke publizierten) Essay Vom Warten und vom Traum. Versuch eines Kommentars zu Jorge Luis Borgesʼ »Die Wartezeit« (in: Bernd Ternes / Herbert Neidhöfer (Hg.), Was kostet den Kopf? Ausgesetztes Denken der Aisthesis zwischen Abstraktion und Imagination. Dietmar Kamper zum 65. Geburtstag, Marburg 2001) über Borges geschrieben hatte:
»Er [der Besitzer des Alephs] erklärte, ein Aleph sei einer jener Punkte im Raum, die alle Punkte in sich enthalten (…) der Ort, an dem, ohne sich zu vermischen, alle Orte der Welt sind, aus allen Winkeln gesehen.« (Das Aleph; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 6, Frankfurt am Main 1992, S. 140) (…)
Borges bettete seinen Bericht von dem ominösen Aleph in die ironische Geschichte eines Trauerkults, der den Ich-Erzähler in Kontakt mit dem Bruder [War es nicht der Cousin? H. N.] der geliebten Verstorbenen brachte (…): Carlos Argentino wurde als ein eher schlechter Dichter charakterisiert, der sich – inspiriert von dem Aleph, das sich im Keller seines Hauses befand – anschickte, ein hybrides Epos, Die Erde betitelt, zu verfassen …: »Hatte er doch vor, die Gesamtrundung des Planeten in Verse zu bringen; im Jahr 1941 hatte er bereits einige Hektar des Staates Queensland erledigt und über einen Kilometer vom Lauf des Ob, einen Gasometer im Norden von Veracruz, die wichtigsten Geschäftshäuser der Gemeinde Concepción, das Landhaus von Mariana Cambáceres de Alvear in der Calle Once de Setiembre in Belgrano und ein Türkisches Bad unweit des berühmten Aquariums von Brighton. Er las mir ein paar besonders mühsame Stellen aus der australischen Zone seiner Dichtung vor …« (ebd., S. 136). Es bedarf keiner weiteren Worte um zu belegen, daß sich die Erde auf diese Weise in einem Menschenleben nicht in Schrift fassen ließ.
Borges der Erzähler hatte keine Schwierigkeit, das Scheitern dieses Schreibens zu beschreiben: er begann einfach mit einer zufälligen Aufzählung aller Dinge die es gab. Der fiktive Borges der Erzählung (der Ich-Erzähler) sah sich jedoch, nachdem er das Aleph und das, was es gezeigt, mit eigenen Augen gesehen hatte, in großer Not, das Gesehene – ohne dabei auf ein ›Bild‹, eine Metapher zurückzugreifen – zu beschreiben: »Überdies ist das Kernproblem unlösbar: die Aufzählung, wenn auch nur die teilweise, eines unendlichen Ganzen.« (ebd., S. 143) – die Hybris eines solchen Versuchs hatte er ja eben an Carlos Argentino vorgeführt – »Was meine Augen sahen, war simultan: was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist. Etwas davon will ich gleichwohl festhalten.«
Pablo J. Brescia bezeichnete in seinem Essay Josef von Sternberg und Borges dieses ›Etwas‹ als »das Zeigen einer Reihe scheinbar inkohärenter Bilder, die im Leser den Eindruck erwecken, er sehe alles zur gleichen Zeit.« (…) Es ist ein Charakteristikum der Erzählungen Borges’, das, was ihre Magie ausmacht, daß in ihnen etwas extrem genommen wurde, beim Wort, wie man so sagt, dabei müßte es hier aber heißen: als Ding, daß eine Idee, eine Theorie oder ein Dogma – eigentlich versehen mit dem Hinweis: Achtung: Nur für den geistigen Gebrauch bestimmt! – konsequent in aller Paradoxie zuende gedacht und materialisiert wurde, für das normale, kategorisierende Verständnis, für die Logik mit Subjekt, Prädikat und Kopula wurden Metaphern zu wörtlich genommen, das Nichtidentische wurde nicht zugerichtet, auch nicht als Differenz markiert, sondern aufgezählt.
Die gleiche Diagnose – Inkohärenz, die über das ›Etwas‹ gestellt wurde – traf auch auf Argentinos Epos Die Erde zu: »eine Reihe scheinbar inkohärenter Bilder«. Der Unterschied zwischen den beiden gleichartigen Aufzählungen war: Argentino wollte das Ganze, der fiktive Borges, der sein Schreiben reflektierte, wollte ›Etwas‹, das den Eindruck des Ganzen vermittelte. In seinem Essay Die Erzählkunst und die Magie unterschied Borges zwischen »dem natürlichen [Kausalvorgang], der das unaufhörliche Ergebnis kontrollierbarer und unendlicher Wirkungsvorgänge ist, und dem magischen, bei dem die Einzelheiten weissagen, und der klar und begrenzt ist.«
Joyce war übrigens auch ein Meister der Aufzählungen, hier ein Beispiel, beziehungsweise zwei Beispiele, ein kurzes und ein langes:
He [Mr Bloom] is pelted with gravel, cabbagestumps, biscuitboxes, eggs, potatoes, dead codfish, woman’s slipperslappers.
Das war das kurze Beispiel, und jetzt:
After him, freshfound, the hue and cry zigzag gallops in hot pursuit of follow my leader: 65 C 66 C night watch, John Henry Menton, Wisdom Hely, V. B. Dillon, Councillor Nannetti, Alexander Keyes, Larry O’Rourke, Joe Cuffe, Mrs O’Dowd, Pisser Burke, The Nameless One, Mrs Riordan, The Citizen, Garryowen, Whatdoyoucallhim, Strangeface, Fellowthatslike, Sawhimbefore, Chapwith, Chris Callinan, sir Charles Cameron, Benjamin Dollard, Lenehan, BarteIl d’Arcy, Joe Hynes, red Murray, editor Brayden, T M. Healy, Mr Justice Fitzgibbon. John Howard Parnell, the reverend Tinned Salmon, Professor Joly, Mrs Breen, Denis Breen, Theodore Purefoy, Mina Purefoy, the Westland Row postmistress, C. P. M’Coy, friend of Lyons, Hoppy Holohan, man in the street, other man in the street, Footballboots, pugnosed driver, rich protestant lady, Davy Byrne, Mrs Ellen M’Guinness, Mrs Joe Gallaher, George Lidwell, Jimmy Henry on corns, Superintendent Laracy, Father Cowley, Crofton out of the Collector General’s, Dan Dawson, dental surgeon Bloom with tweezers, Mrs Bob Doran, Mrs Kennefick, Mrs Wyse Nolan, John Wyse Nolan, handsomemarriedwomanrubbedagainstwidebehindinClonskeatram, the bookseller of Sweets of Sin, Miss Dubedatandshedidbedad, Mesdames Gerald and Stanislaus Moran of Roebuck, the managing clerk of Drimmie’s, colonel Hayes, Mastiansky, Citron, Penrose, Aaron Figatner, Moses Herzog, Michael E. Geraghty, Inspector Troy, Mrs Galbraith, the constable off Eccles Street corner, old doctor Brady with stethoscope, the mystery man on the beach, a retriever, Mrs Miriam Dandrade and all her lovers. (James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 504f.).
Und in aller Bescheidenheit: vgl. auch Telos, S. 420:
… sowie diverse Analerotiker, Angestellte, Arschgesichter, Automobilfahrer, Bahnopfer, Bahnreisende, Bajuwaren, Bauarbeiter, Bauern, Besserwisser, Bettler, Bewohner der Stadt der Narren, Bordellbesucherinnen und -besucher, cousines et cousins, Cowgirls and -boys, Dilettanten, Domstädter, Dorftrottel, Eigenheimbesitzer, Ekel, Enten, Esoterikerinnen, Fahrradfahrer, die Fauna, Filmfiguren, Fische, fliegende Fische, die Flora, Flugreisende, fratelli siciliani con gli fucili da caccia, Frauen, Frauen die sich eine Katze halten, Fußgänger, Gaststättengäste, Gehülfen, Geister, Genies, Göttinnen und Götter, Hansestädter, Hauptstädter, Heterosexuelle, Hexen, Homosexuelle, Hotelgäste, Hunde, Ignoranten, Inselbewohner, inzestuöse Geschwister, Joggerinnen, Katzen, Keilinger, Kellnerinnen, Kolleginnen und Kollegen, Kongreßteilnehmer und -veranstalter, Kreisstädter, Kurpfuscher, Lagerarbeiterinnen und -arbeiter, Lemminge, Leserinnen und Leser, Liebende, Liebesverräterinnen, Leute, Leute aus dem administrativ belästigten Publikum der Individuen, literarische Figuren, Masturbarteure, Maulhelden, Mäuse, Medien, Menschen, Meeressäuger, Muscheln, Mütter, Nackte, Noberker, Omnibusfahrer, Omnibusreisende, Onanierende, Orakel, Oralerotiker, Pädagogen, Päderasten, Pansexuelle, Passagiere, Passanten, Pedestrians, Pensionsgäste und -wirtinnen, Personen, Personenschäden, Perverse, Pfandflaschenretournierer, polymorph Perverse, Priester, Prostituierte, Provinzler Querulanten, Radaubrüder, Reaktionäre, reale Figuren, Revolverhelden, Rezipienten, Römerinnen und Römer, Schauspieler, Schüler, Schwestern, Selbstmörder, Serienhelden, Statisten, Sterbliche, Studentinnen und Studenten, Taschentelephonbenutzer, Taxifahrer, Tote, tragische Figuren, Transsexuelle, Tunten, Unsterbliche, Väter, Verlassene, Wanderer, Wartende, Wirte, Xantippen, Yorkshireterrier, Zechpreller …
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel X [Phase IV – oder: modus vivendi], 7. bis 30. Januar 2014).
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