Sonntag, 25. November 2018

Reunión

Die Erzählung Jack Londons, auf die Che Guevara in dem zitierten Motto anspielte, kannte ich aus Borgesʼ Bibliothek von Babel: der von Indianern gefangene Protagonist entging darin dem schmählichen Foltertod, indem er seine Enthauptung provozierte. – Diese Erzählung Cortázars war die schwächste bisher: sie beschrieb eine Operation von Revolutionären, die zu scheitern drohte, aber dann doch erfolgreich war. Der Ich-Erzähler entpuppte sich am Ende als Che, was man als Kenner von Revolutionsmythen wahrscheinlich hätte erkennen können (er war Arzt etc.). Sowas wäre eine Generation früher vielleicht noch gegangen, aber Mitte der sechziger Jahre nicht mehr.

(Julio Cortázar, Cuentos Completos, Todos los fuegos el fuego (1966)).

Sonntag, 18. November 2018

La salud de los enfermos

Aus Rücksicht auf ihre Krankheit (sie hatte u. a. Bluthochdruck) verschwieg eine Familie der Mutter mit einem enormen Aufwand den Tod ihres Sohnes und ihrer Schwester. An ihrem Totenbett kam heraus, daß sie ab einem gewissen Moment des Theaters alles gewußt hatte. Zuerst fiel mir Goodbye Lenin ein, dann aber Calderóns La vida es sueño und in Teilen auch Shakespeares A Midsummer Night’s Dream. Dann gab es da noch einen Kriegsthriller, in dem die Nazis einem alliierten Geheimnisträger ein Sanatorium nach der Landung in Frankreich vorspielten, um an Ort und Zeit der tatsächlich noch bevorstehenden Landung zu kommen.

(Julio Cortázar, Cuentos Completos, Todos los fuegos el fuego (1966)).

Raum, Zeit

Der Raum scheint entweder gezähmter oder harmloser zu sein als die Zeit: man begegnet überall Leuten, die Uhren haben, und sehr selten Leuten, die Kompasse haben.

(Georges Perec, Träume von Räumen, Zürich / Berlin, 2. Aufl. 2016, S. 142f.).

Donnerstag, 15. November 2018

Strategie

– Waren die Ideen falsch oder die Ausführung?
– Ein Übermaß von Ideen gegenüber den Realitäten ist sicher falsch.
– Hätte man das vermeiden können?
– Sie meinen: keine Ideen haben?
– Beobachten. Abwarten. Vom Ereignis überrascht, zeigen wir, was wir gelernt haben?
– Eher so.

(Alexander Kluge, Gründet sich Revolution auf Arbeit oder auf Ideen? Geisterhaftigkeit revolutionärer Prozesse; in: Die Lücke, die der Teufel läßt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2005, 9 Wach sind nur die Geister; 9.3 Die Schatzsucher / Geisterhaftigkeit der menschlichen Arbeit, S. 760).

Sonntag, 4. November 2018

»It is the evening of the day …«

Noch eine Definition

Leben heißt, von einem Raum zum anderen gehen und dabei so weit wie möglich zu versuchen, sich nicht zu stoßen.

(Georges Perec, Träume von Räumen, Zürich / Berlin, 2. Aufl. 2016, S. 13).

Samstag, 3. November 2018

Fenster #222

Schöneweide (Ost)

La autopista del sur

In der Wohnung [von Camille und Paul in Godards Le mépris (1963)] findet einer der längsten Ehestreite der Filmgeschichte statt, eine Vorwegnahme des längsten Autostaus der Filmgeschichte in Week End (1967).*


* Später, also nach den oben angeführten Notizen, die er auch diesbezüglich nicht mehr ergänzen sollte, da er den Essay zu dem Film aufgegeben hatte, später also sollte Hans Köberlin erfahren, daß manche Filmhistoriker davon ausgingen, daß Teile von Week End von Cortázars La autopista del sur inspiriert worden seien. Es ging in dieser Erzählung um einen Stau auf einer aus dem Süden nach Paris führenden Autobahn, der einen Herbst und einen Winter dauerte und sich erst im Frühling wieder auflöste. Es bildeten sich während dieser Stauzeit tribal organisierte Schicksalsgemeinschaften, die auf Subsistenzebene wirtschafteten, und es passierte eine Liebesgeschichte, die jedoch tragisch scheiterte, als der Stau sich wieder auflöste und man sich ohne eine Möglichkeit des Wechsels zu haben im immer schneller werdenden Verkehrsfluß auf verschiedenen Spuren befand. Es gab schöne Beschreibungen, Cortázar schaffte es aber nicht so ganz, die verschiedenen Zeittempi – Stunden, Tage, Wochen und Jahreszeiten – in ihren spezifischen Dauren darzustellen.

(Julio Cortázar, Cuentos Completos, Todos los fuegos el fuego (1966)).