Sonntag, 13. August 2017

Fenster #155

Mudanza · Distante espejo · Carta a una señorita en París · Que tal, López

In diesem Spannungsfeld [zwischen Zen und Zwangsneurose] hatte Cortázar das Thema ›Gewohnheit‹ in seinen Erzählungen thematisiert. Zum ersten Mal, wenn wir uns recht entsinnen, in Mudanza, wo ein Gewohnheitsmensch nach der Arbeit nach Hause kam und alles leicht verändert vorfand. Die Veränderungen nahmen dann zu und am nächsten Morgen war alles anders (man erinnere sich an Lynchs Lost Highway (1997): der Protagonist in der Todeszelle). Bei Cortázar schickte sich der Mann drein. Das Leben im Modus der Gewohnheit behauptete sich gegenüber dem vollkommen Neuen. In Distante espejo dann – einem Pastiche nach der Reitergeschichte von Hofmannsthal, dessen Gedichte der Protagonist las, und nach Borges – wurde ein Mann von einem inneren Drang gezwungen, entgegen seinen Gewohnheiten auszugehen. Dabei begegnete er sich selber, starb aber nicht wie der Husar des Vorbildes. Hier war die Gewohnheit die Folie für das unerhörte Ereignis, sie wurde als Schutz vor der Welt geschildert. Der Mann hatte, nebenbei bemerkt, einen Lebens- und Lesemodus, der frappant unserem und dem von Clemens Limbularius (siehe vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, und Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius, Berlin 2013) und, wie wir noch sehen werden, dem von Hans Köberlin glich. Und in seiner Krise trank er Lindenblütentee, den literarischsten unter allen Kräutertees. Was passieren konnte, wenn zwei konträre Gewohnheiten sich durchdrangen, erzählte Cortázar in Carta a una señorita en París. Ein Mann, der ohne es zu wollen alle paar Wochen oral ein Kaninchen gebiert, bewohnte die Wohnung nebst Dienstmädchen einer Bekannten, die für drei Monate in Paris weilte. Die Kaninchen, die die Ordnung der Gastgeberin zerstörten, wurden zu einem Problem, das ihn schließlich in den Selbstmord trieb. Mit solch einem Gebrechen geschlagen, konnte man in der Gesellschaft, wie ein Diabetiker oder ein Dialysepatient, nur im Gerüst seiner Gewohnheiten überleben. Eindeutig gegen die Gewohnheit sprach er sich in Que tal, López aus. Dies erschien Hans Köberlin fast wie ein Schlüsseltext zu dem Grundthema Cortázars zu sein, hier hatte er es, sein Grundthema, Hamlet unterstellt: »busca la solución auténtica y no las puertas de la casa o los caminos ya hechos.« (Historias de cronopios y de famas; in: Julio Cortázar, Die Erzählungen, Frankfurt am Main 1998, Bd. 3, S. 43). Die authentische Lösung war aber nach Hans Köberlin die, bei der der Autor die Hand biß, die ihn fütterte, womit nicht der Mäzen gemeint war, sondern der Hintergrund der Existenz des Autors, was Cortázar wiederum in seiner Charlie-Parker-Erzählung ausführte. Man erlebte hier den Narzißmus des marginal man, der sich dadurch speiste, der marginal man zu sein. Warum sollte eine Geste der Liebe falsch sein, nur weil sie seit Menschengedenken ausgeführt wurde? Es war nicht gut, daß der Schuh drückte, nicht alle Dinge sollten zuhanden sein, manchmal war der Takt wichtiger denn die Wahrhaftigkeit. Cortázar war hier eher Musil denn Kafka oder Borges.

(Julio Cortázar, Cuentos Completos, La otra orilla (1945), Historias de Gabriel Medrano; Bestiario (1951); Historias de cronopios y de famas (1962), Material plástico).