Mittwoch, 10. August 2016

Kausalitäten

die philosophen beharren darauf, daß man sich gründe vorstellen kann, die man sich nicht vorstellen kann.

(Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 247).

Fenster #44

Sonntag, der 10. August 2014


[313 / 11]
Hans Köberlin hatte sich um sieben Uhr von der Weckfunktion seines Taschentelephons wecken lassen. Leise schlich er sich von der Frau, ging auf die Toilette, putzte sich die Zähne, zog sich an, nahm die Badesachen und ging los. Er hatte sich nämlich vorgenommen, heute, drei Tage vor seinem Abschied, entlang der durch die gelben Bojen beschriebene Linie durch die gesamte Bucht vor dem Playa La Fossa-Levante zu schwimmen. Die Sonne stand bereits heiß am Himmel, auf der Promenade waren aber trotz der Uhrzeit und der senilen Bettflucht kaum Leute unterwegs, die Strandreiniger hatten ihre Arbeit bereits aufgenommen und Hans Köberlin suchte sich gleich am Anfang der Bucht, dort wo die Felsen aufhörten, einen Platz für seine Kleidung, zog sich um und stieg in das wunderbare Wasser. Langsam und mit gleichmäßigen Zügen schwamm er auf die erste gelbe Boje der Bucht zu. Dabei kam ihm der Gedanke, was wohl wäre, wenn er nach dreiviertel der Strecke draußen, nicht bemerkt von den Gemeindearbeitern und den einzelnen Passanten auf der Promenade und am Strand, einen Schwächeanfall bekommen würde … Bei Hans Köberlin hatte sich nämlich während seiner jetzt 313 Tage seit seinem Aufbruch die Absicht ins Konträre verkehrt: nicht mehr jener Protagonist aus Gattaca, der sich keine Kraft für die Rückkehr aufsparen wollte,* war ihm vor Augen, Hans Köberlin wollte zurückkehren, wollte zurück mit der Frau, mit der er glücklich war.


* In der entsprechenden Fußnote zu Kafkas Diktum: »Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.« (Franz Kafka, Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg; in: Gesammelte Werke, hrsg. von Max Brod, Frankfurt am Main 1950ff., Bd. 7, Prosa aus dem Nachlaß, S. 39), schrieben wir im Prolog: »Wie auch der Protagonist von Gattaca (Andrew Niccol, 1997) sich nur deshalb behaupten konnte, weil er seine ganze Kraft in die Zukunft ausrichtete, ohne sich Reserven für einen Rückweg vorzubehalten.« Auch da war es um das Schwimmen im Meer gegangen …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXII [Der abschließende Besuch der Frau], 12. Juli bis 12. August 2014).