Donnerstag, 14. April 2016

Montag, der 14. April 2014


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Und wieder einmal überdachte Hans Köberlin die Möglichkeiten des Nomadentums: ständiges Reisen und ein Leben im Hotel, wie es als Möglichkeit in der bereits erwähnten Unterhaltung zwischen Benjamin und Brecht zu Sprache gekommen. Der Modus des Schreibens wäre dann einer wie der damals bei dem Schreiben in die Kladde, ohne Option zum permanenten Überarbeiten, man würde wohl automatisch zu einer Art von Lyriker, nur noch Impressionen, festgehalten in lange durchdachten Versen, man erreichte das Gegenteil von unserem Bericht, der anscheinend die Unverschämtheit eines schwatzhaften Erdenkloßes darstellt. Aber Hans Köberlin war kein Lyriker. Brecht fiel ihm ein, der bei Goethe eine »schöne widersprüchliche einheit« gesehen hatte, die nach ihm in eine »völlig profane« (Heine) und eine »völlig pontifikale« (Hölderlin) Richtung zerfallen sei.* Hans Köberlin wollte weder das eine noch das andere sein … also sich eher der kleinen Form widmen? Aber auch mit der tat er sich schwer. Keine Form also … also wären wir wieder bei den Aufzeichnungen, bei dem guten alten Arbeitsjournal, bei dem er sich vielleicht – es wegen des Nomadentums als das Endgültige ansehend und dabei die Nachwelt im Blick – etwas mehr Mühe geben sollte.


* Vgl. Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 124. Zwei Tage später, am 24. August 1940, stellte er vorläufige Überlegung zur Bestimmung eines Kunstwerks an: »1) ein kriterium für ein kunstwerk kann sein, ob es noch die erlebnismöglichkeiten irgendeines individuums bereichern kann. 2) ausdrucksmöglichkeiten können bereichert werden, welche nicht eigentlich erlebnismöglichkeiten sind, sondern eher kommunikationsmöglichkeiten. 3) lyrik ist niemals bloßer ausdruck. die lyrische rezeption ist eine operation so gut wie etwa sehen oder hören, dh viel mehr aktiv. das dichten muß als menschliche tätigkeit angesehen werden, als gesellschaftliche praxis mit aller widersprüchlichkeit, veränderlichkeit, als geschichtsbedingt und geschichtemachend. der unterschied liegt zwischen ›widerspiegeln‹ und ›den spiegel vorhalten‹. (ebd., S. 125f.). »geschichtemachend« …: naja, literaturgeschichtemachend vielleicht …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XV [Der dritte Besuch der Frau und andere Besuche], 11. bis 27. April 2014).