Dienstag, 16. Februar 2016

Sonntag, der 16. Februar 2014


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Nach dem Dauerlauf – es war sonnig aber windig – und dem Frühstück und dem Duschen setzte Hans Köberlin sich an seinen Tisch im leeren Wintergarten, und um 12Uhr14 – ein gewichtiger Moment in seinem Leben, vielleicht nach seinen schicksalhaften Momenten mit bestimmten Frauen und nach dem Moment seiner Romanpublikation der gewichtigste Moment: »… and first I put my arms around him yes and drew him down to me so he could feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will Yes.« – Und das ›Ja‹ wurde Fleisch …
Nach 1977 und nach 1981 – 1997 war er (wie bei allem im Leben damals) im ersten Drittel steckengeblieben – vollendete Hans Köberlin zum dritten Mal die Lektüre des Ulysses, und er fühlte eine große Leere in sich, er spürte seine Zerrissenheit, die er über der Lektüre vergessen hatte können, es war ihm, als hätte man ihm eine Aufgabe genommen, nämlich die Aufgabe, ein aufmerksamer und liebevoller Leser zu sein, und er hätte am liebsten mit dem Roman gleich wieder von vorne begonnen, an jenem Martello Tower in Sandymount …
Stately, plump Buck Mulligan came from the stairhead, bearing a bowl of lather on wich a mirror and a razor lay crossed. A yellow dressinggown, ungirdled, was sustained gently behind him by the mild morning air. He held the bowl aloft and intoned:
– Introibo ad altare Dei.
»Trieste-Zürich-Paris, 1914-1921.« … und wie Borges in seiner Invocación a Joyce mochte Hans Köberlin ausrufen …
»Soy los que no conoces y los que salvas.«
Sieben Jahre hatte also Joyce daran geschrieben … (er hätte das bei der Siebeneraufzählung in Telos ergänzen können, wenn er daran gedacht hätte):* einmal einen langen Atem haben, sich nicht kirre machen lassen von der Welt (die Frau und die Freunde vertrauten doch seinem diesbezüglichen Talent) … »Die Idee zu meinem Roman hatte ich am heiligen Abend 1988, und zuerst publiziert wurde er kurz vor dem heiligen Abend 2007, wobei ich nicht sagen könnte, ich hätte neunzehn Jahre daran gearbeitet, und wobei ich zu meiner Schande auch nicht sagen könnte, sein Zustand sei lege artis.« – Was das mit dem Frühstück wohl auf sich hatte, das hatte sich Hans Köberlin das ganze letzte Kapitel über gefragt, dann anschließend war er bei Nabokov auf eine plausible Erklärung gestoßen, nämlich daß Mr Bloom der Ansicht sei, sein Wissen um die und seine sillschweigend Duldung der Fortsetzung dieser schmutzigen Geschichte mit Blazes Boylan gebe ihm die Oberhand über Molly. Und auch Nabokov kam, wie auch Thirlwell, zu der Ansicht, Molly liebe Bloom, allerdings mit der Einschränkung, wenn sie überhaupt jemanden liebe. Natürlich hatte Nabokov recht, wenn er schrieb, der sogenannte ›stream of concousness‹ sei eine Kunstform und ein Bewußtsein arbeite nicht so rein sprachlich. Woher er wissen solle, warum er seine Gedanken denke, hatte sich der Protagonist von The Third Policeman gefragt … Hans Köberlin hielt inne und schloß – quasi um sich zu lesen – die Augen (wie Mr Bloom einmal die Augen geschlossen hatte, um sich nach der Begegnung mit dem blinden Klavierstimmer selber in eine Blindheit zu imaginieren und derart die Haut auf seinem Bauch zu befühlen) …: das permanente von einem hohen Ton gekrönte Rauschen des Blutes in seinen Ohren, was die Erinnerung an eine der von John Cage erzählten Geschichten, die er während seiner Indeterminacy-Dauerläufe gehört hatte, evozierte,** Pochen in seinen Schläfen, Schostakowitschs Bratschensonate aus dem Radio in der Küche, irgendwo fuhr ein Auto, der Nachbar – »Der Idiot!« – kam an und hupte, ein Hund bellte und eine Frau schimpfte im hiesigen Idiom, Lichtflecken sobald man die Lider lockerte, Geflacker sogar hinter den geschlossenen Lidern, »als wir auf dem Rückweg der Wanderung durch die Siedlungen von Albir gingen, sahen wir in einem Hof an einem komplizierten und mit Stahlseilen verankerten Gerüst aus Stahlrohren ein Artisten-Trapez hängen … meine Liebste, wenn ich dich jetzt nur spüren und riechen und schmecken könnte« … die Assoziation aus The Pale King: Stoppelfeld – Mädchen, das sich die Achselhöhlen selten rasiert … der seltsame unsichtbare Vogel pfiff seinen seltsamen Pfiff … und die Frau nochmals (nicht als Wort), hier (irrealer Eindruck, gewollt zu wollüstigen Vorstellungen imaginiert), die Hauptstadt (multimediale Erinnerungsfetzen, durchgangene Straßenzüge, Baustellen, Kräne in spätsommerlichen Abendhimmeln …), Geld = Zukunft (nonverbal als Gefühl von Sorge und Bedrückung und Ärger über sich selber), der Krafthorizont, sein ›als-ob‹ … »fucked yes damn well fucked too up to my neck«*** … Finnegans Wake war da wohl näher dran, weil es noch artifizieller als Ulysses war. Beide Werke, Ulysses und noch mehr Finnegans Wake, das empfand Hans Köberlin, wie eben in der Fußnote oben angedeutet, einmal mehr, waren eigentlich große Poeme, die man eher fachkundig rezitiert hören sollte, denn sie für sich und vor sich hin leise zu lesen, sie waren logische Endpunkte ihrer Kunst, die alles übrige zu Zeitvertreib machten …**** Hans Köberlin öffnete seine Augen wieder, schaute vor sich auf das geschlossene Buch und damit auf Jonathan Barrys Gemälde der Halfpenny Bridge, von der er nicht wissen sollte, daß er bereits im nächsten Jahr mit der Frau über sie gehen sollte, und die am Rand des Einbands sich durch den intensiven Gebrauch ablösende Schutzfolie, und er sprang damit von seinem Bewußtseinsstrom, beziehungsweise von der versuchten Imagination eines solchen, ab.
»Was nun?«


* Vgl. vom Verf. Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius, Berlin 2013, S. 148 und dort die Fußnote 456 …?!: 4, 5 und 6, die drei Zahlen, die vor der 7 kommen …
** »There is no such thing as an empty space or an empty time. There is always something to see, something to hear. In fact, try as we may to make a silence, we cannot. For certain engineering purposes, it is desirable to have as silent a situation as possible. Such a room is called an anechoic chamber, its six walls made of special material, a room without echoes. I entered one at Harvard University several years ago and heard two sounds, one high and one low. When I described them to the engineer in charge, he informed me that the high one was my nervous system in operation, the low one my blood in circulation. Until I die there will be sounds. And they will continue following my death. One need not fear about the future of music.« (John Cage, Experimental Music; in: Silence. Lectures and writings by John Cage, Hanover / New England 1961, S. 8).
*** James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 680. Nach seiner Rückkehr sollten Joyce und sein Ulysses-Roman in Hans Köberlins Leben präsent bleiben: er besorgte sich nämlich in der öffentlichen Bibliothek sowohl die kommentierte Ausgabe, von der er, wie vorgenommen, bloß den Kommentar las, als auch den Roman als Hörbuch (eine rund eineinhalb Tage dauernde Lesung) und als Hörspiel (21 Stunden und 32 Minuten). Die hörte er dann während seiner morgendlichen Dauerläufe, zuerst das Hörbuch, dann das Hörspiel und schließlich wieder das Hörbuch. Hinzu kam 2015 Finnegans Wake, über rund einen Tag und fünf Stunden vollständig interpretiert von diversen, Hans Köberlin nicht bekannten, Audiokünstlern (den ersten Teil sollte Hans Köberlin auch am Mittwoch, dem 20. Mai 2015 hören, als er mit Omnibus und U-Bahn zu seiner zweiten Scheidung fuhr), und 2016 das gleiche Projekt noch einmal mit anderen Künstlern. Zuvor natürlich: die selektive – selektiert nach dem I Ging (regulierter Zufall) – Lektüre über seiner Soundcollage von John Cage. Als Krönung dann folgte eine vom 22. Juli bis zum 5. August 2015 dauernde Reise mit der Frau (und auch von ihr größtenteils finanziert) auf James Joyces Herkunftsinsel.
**** »Was man treibt gewinnt mehr und mehr den Charakter des Zeitvertreibs«, hatte Thomas Mann irgendwann in sein Tagebuch geschrieben und hinzugefügt: »Möge er ehrenvoll sein.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase 5 – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).