Dienstag, 26. Januar 2016

Sonntag, der 26. Januar 2014


[117 / 207]
Dann las er bei Pessoa die Passage mit der Nummer 45 …
Ein leidenschaftsloses, kultiviertes Leben leben, im Freien der Ideen, lesend, träumend und ans Schreiben denkend, ein Leben, so hinlänglich langsam, daß es stets dem Überdruß nahe kommt, doch hinreichend überlegt, um ihm nicht zu nahe zu kommen. Dieses Leben fern von Gefühlen und Gedanken leben, nur in Gedanken an Gefühle und an die Gefühle der Gedanken. Golden stillstehen in der Sonne wie ein dunkler, von Blumen gesäumter See. Im Schatten so einzigartig vornehm sein, nichts zu verlangen vom Leben. In der Volte der Welten Blütenstaub sein, aufgewirbelt von einem ungekannten Wind in die Nachmittagsluft und von der reglosen Abenddämmerung fallen gelassen an einem Zufallsort, sich verlierend unter größeren Dingen. Dies alles in sicherem Wissen sein, weder heiter noch traurig, der Sonne dankbar für ihren Schein und den Sternen für ihre Ferne. Nicht mehr sein, nicht mehr haben, nicht mehr wollen … Die Musik des Hungrigen, das Lied des Blinden, das Andenken des unbekannten Wanderers, die Spuren des Kamels in der Wüste, ohne Last noch Ziel …*
Dieser Text kam Hans Köberlins Absichten und Idealen sehr nahe, war aber von Entsagungsvorsätzen getränkt, die unserem sinnlichen Helden nicht entsprach, jedenfalls nicht in allen Bereichen – den wichtigen, sexuellen, rauschhaften – entsprach … Hans Köberlin modifizierte den Text …
Ein leidenschaftsloses, kultiviertes Leben leben, im Freien der Ideen, lesend, träumend und ans Schreiben denkend, ein Leben, so hinlänglich langsam, daß es stets dem Überdruß nahe kommt, doch hinreichend überlegt, um ihm nicht zu nahe zu kommen. Dieses Leben fern von Gefühlen und Gedanken leben, nur in Gedanken an Gefühle und an die Gefühle der Gedanken. Golden stillstehen in der Sonne wie ein dunkler, von Blumen gesäumter See. Im Schatten so einzigartig vornehm sein, nichts zu verlangen vom Leben. In der Volte der Welten Blütenstaub sein, aufgewirbelt von einem ungekannten Wind in die Nachmittagsluft und von der reglosen Abenddämmerung fallen gelassen an einem Zufallsort, sich verlierend unter größeren Dingen [nämlich der Liebe]. Dies alles in sicherem Wissen sein, weder heiter noch traurig, der Sonne dankbar für ihren Schein und den Sternen für ihre Ferne. Nicht mehr sein, nicht mehr haben, nicht mehr wollen [»mehr« immer bloß quantitativ gemeint] … Die Musik des Hungrigen, das Lied des Blinden, das Andenken des unbekannten Wanderers, die Spuren des Kamels in der Wüste, ohne Last noch Ziel …
Er fragte sich, ob man das eine ohne das andere leben konnte, ein dionysischer Stoiker sein …
Am Nachmittag ging Hans Köberlin, weil es relativ windstill blieb, einmal wieder zur ›Coral Beach Bar‹. Unterwegs, auf diesem wunderbaren Küstenwanderweg, fragte er sich, wie das wohl war, wenn man eine gelernte Profession beherrschte und gerne ausübte und damit in Lohn und Brot stand und derart gut war – wie das bei der Frau der Fall war –, daß man eine Entlassung nicht fürchten mußte, weil die Welt auf einen wartete … Hans Köberlin konnte sich das bloß abstrakt vorstellen.**


* (Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S. 54).
** Der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, um noch einmal auf das Livro do Desassossego zurückzukommen, hatte geschrieben, es sei der zentrale Irrtum der literarischen Phantasie, zu vermuten daß die anderen wie man selber seien und daß man selber wie sie fühlen müsse (ebd., S. 177). Außerdem, wie schon Demokrit gewußt hatte: »Viele, die nichts Vernünftiges gelernt haben, leben trotzdem vernünftig.« (Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch von Hermann Diels, Berlin vierte Aufl. 1922, Bd. 2, S. 74).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel X [Phase IV – oder: modus vivendi], 7. bis 30. Januar 2014).