Donnerstag, 7. Januar 2016

»Read ʼem ʼn weep …«

Dienstag, der 7. Januar 2014


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In Hebbels Tagebüchern las Hans Köberlin: »Nimm mir das Leben, wenn Du mir denn das Leid nicht nehmen kannst!« Das erinnerte ihn an eine Abmachung qua Versprechen – »Hand drauf!« –, die er, perfide und nicht ganz ernst (wie er jetzt, wo er die Frau liebte, behauptete), dafür war es zu absurd gewesen (wie er jetzt, wo er die Frau liebte, behauptete), Diotima einmal vorgeschlagen hatte … Und dann, ein paar Seiten weiter, eine makabre Beschreibung seines, Hans Köberlins, ›als-ob‹: »halb unter der Erde liegen.« Auf die »sociale Tragödie« angesprochen meinte er, Hebbel, desweiteren, dies sei eine anthropologische Konstante und (außer aus einer religiösen oder kommunistischen Perspektive) wie der Tod keine »Frage von Schuld und Versöhnung« und ergo nicht tragisch. Hier würde Hans Köberlin gleichfalls – wie bei der Verzweiflung – ontisch und sozial (also: ontisch fundierte »sociale Tragödie« und sozial fundierte »sociale Tragödie«)* – differenzieren, wobei er sich diesmal der ontischen Seite zuschlagen würde: sein materielles Elend (auf das er seine »sociale Tragödie« reduzierte) war das Resultat seiner Haltung zur Welt und nicht das Resultat einer allgemeinen Ungerechtigkeit …
»Ich habe meine Chancen, einen Platz in der Welt zu finden, gehabt, sie aber nicht genutzt oder vertan, und das ist – zumindest für mich – tragisch …. – manchmal zumindest.«**
Dann begann Hans Köberlin – er konnte solches wie das eben gerade mittlerweile vollkommen ruhig und gelassen denken – mit der Lektüre von Heißenbüttels Projekt Nr. 1: D’Alemberts Ende, einem Buch, das er, wie gesagt, in der Bibliothek des Hauses gefunden hatte. Wenn er dann am Montag, dem 9. Juni 2014, passend zu Beginn der letzten Phase, diese Lektüre beendet haben würde, dann sollte er im letzten Kapitel »Drittes Quergespräch: Demaskierung« lesen: »Alles Material nachprüfbar. Nachzuprüfende Schauplätze, Daten, Wettervoraussagen, Sonnenuntergänge, Straßen, Personen, Berufe, Institutionen, Anspielungen, Reden, Zitate, Relationen usw.; zugleich alles völlig unprüfbar. Eine Welt aus authentischen Bestandteilen ganz und gar erfunden.« Und wir möchten zu diesem ästhetischen Ansatz, der sich zum Teil auch ein wenig mit dem unseren deckte, aber nur zum Teil, denn wir genießen die Wonnen der Postauthentizität, siehe Lionel Trilling, wir also möchten nochmals darauf hinweisen, daß wir die erste Option – »Alles Material nachprüfbar …« – durch unsere Fußnoten erheblich erleichtern.


* »… because (…) we are all born in the same way but we all die in different ways.« (James Joyce, Ulysses, with an Introduction by Cedric Watts, London 2010, S. 378).
** Wir, die wir Differenzierungen lieben, stießen bezüglich des Platzes in der Welt und wie man ihn ausfüllte auf eine interessante Differenzierung bei Milan Kundera, nämlich die Einteilung der Menschen in ›Entschuldiger‹ und in ›Anschnautzer‹. Alain, einer seiner Protagonisten in La fête de lʼinsignifiance, ging von der seit Hobbes bekannten Tatsache, das Leben sei ein Kampf aller gegen alle aus, und er fragte sich, wie so ein Kampf in einer mehr oder minder zivilisierten Gesellschaft, in der die Leute nicht übereinander herfallen könnten, sobald sie sich erblickten, verlaufe, und er kam zu der Einsicht, daß sie stattdessen versuchten, dem anderen die Schande der Schuld anzuhängen. Es gewänne immer der, dem es gelänge, den anderen schuldig zu machen, und es verliere der, der seinen Fehler zugebe. Alain exemplifizierte dies an der Situation des Touchierens auf der Straße (vgl. dazu auch vom Verf. Telos oder Beiträge zu einer Mythologie des Clemens Limbularius, Berlin 2013, S. 77ff.): wer würde den anderen anschnauzen, wer würde sich entschuldigen. In Wirklichkeit sei ja jeder der beiden zugleich Angerempelter und Rempler, und doch betrachteten sich manche sofort, spontan als Rempler, das hieße als Schuldige, und manche sähen sich immer, sofort, spontan als Angerempelte, das hieße als im Recht, bereit, den anderen zu beschuldigen und bestrafen zu lassen. Und er kam zu der traurigen und fatalen Einsicht, daß wer sich entschuldige, sich schuldig bekennen würde, und wenn man sich schuldig bekenne, ermutige man den anderen noch, einen weiter zu beschimpfen, einen anzuprangern, in aller Öffentlichkeit, bis zu seinem Tod. Und das seien die verhängnisvollen Folgen der ersten Entschuldigung (vgl. Milan Kundera, Das Fest der Bedeutungslosigkeit, München 2015, S. 55ff.). – Müssen wir noch sagen, daß Hans Köberlin wie auch Clemens Limbularius wie Kunderas Protagonisten Alain und Charles Entschuldiger waren?

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel X [Phase IV – oder: modus vivendi], 7. bis 30. Januar 2014).