Montag, 20. Juni 2016

Freitag, der 20. Juni 2014


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Heute vor 144 Jahren war der letzte gemeinsame Tag, den die Brüder miteinander verbrachten, soweit man Julesʼ Agonie noch als ein ›Miteinander‹ bezeichnen konnte. Die Vertrautheit, die wir durch Hans Köberlins Heute-vor-Spiel mit den beiden im Verlauf unserer Langzeitdokumentation erlangt haben, legitimiert unserer Ansicht nach, das erschütternde Dokument seines Sterbens – das quasi live im Journal erfolgte* – hier in seiner ganzen Länge wiederzugeben …
Nacht von Sonntag auf Montag – Über ein kleines Gebetbuch gebeugt, das reine Profil von Pélagie, sein dunkler Schatten liegt auf dem weißen Berg von Kissen, inmitten derer sein Kopf verschwunden ist und – aus dem das Röcheln dringt.
Die ganze Nacht das herzzerreißende Geräusch einer Atmung, die wie eine Säge in feuchtem Holz klingt und das alle Augenblicke von schmerzlichen Klagen und jammervollen Ahs! skandiert wird. Die ganze Nacht diese Brust, die kämpft und das Laken hebt! Gott verschont mich nicht mit dem Todeskampf dessen, den ich liebe: wird er mir die Konvulsionen des Endes ersparen?
Das erste Tageslicht gleitet über sein Gesicht, das das erdige und backsteinartige Gelb des Todes angenommen hat, gleitet über seine tiefliegenden, tränenvollen. umdüsterten Augen.
Montag, 20. Juni, 5 Uhr morgens – In seinen Augen ein Ausdruck von Leiden und unsäglichem Elend.
Ein Wesen wie dieses erschaffen, so begabt, so klug, und es mit neununddreißig Jahren vernichten! Warum?
9 Uhr – In seinen trüben Augen plötzlich ein lächelndes Aufleuchten, bei dem ein verschwommener Blick lange auf mir liegt und dann langsam in die Ferne taucht … Ich berühre seine Hände: feuchter Marmor.
9 Uhr, 40 Minuten – Er stirbt, eben ist er gestorben. Gott sei gelobt! Er starb nach zwei oder drei Seufzern eines kleinen Kindes, das einschläft.
Wie grauenhaft unter den Laken die Reglosigkeit dieses Körpers, der nicht mehr das leichte Aufwallen der Atmung besitzt, der im Bett nicht mehr das Leben des Schlafes hat.
Seine Augen haben sich mit dem Leidensblick seiner letzten Lebenstage wieder geöffnet. Sein Kopf liegt etwas höher auf den Kissen, und er scheint mit dem Ausdruck stolzer Verächtlichkeit zu lauschen, den er hatte, wenn Prudhomme sprach. Von seiner ganzen Physiognomie scheint eine leicht sarkastische Traurigkeit auszugehen. Sein Blick scheint einem zu folgen, nachdem man ihn geküßt hat; und man hätte mitunter die Illusion des Lebens, wenn man nicht am Ende seiner bleichen Hände das Violett seiner Nägel vorfände.
Das Magny-Diner wurde von Gavarni, Sainte-Beuve und uns gegründet. Gavarni ist tot, Sainte-Beuve ist tot. Mein Bruder ist tot. Wird sich der Tod mit einer Hälfte von uns begnügen oder wird er bald mich holen? Ich bin bereit.
Je länger ich ihn betrachte, je mehr ich seine Züge studiere, desto mehr finde ich auf diesem Gesicht einen Ausdruck seelischen Leidens, den ich bei keiner einzigen Physiognomie im Tod habe anhalten sehen, desto mehr bin ich betroffen von seiner herzzerreißenden Traurigkeit. Und mir ist, als läse ich darin, jenseits des Lebens, den Schmerz über das abgebrochene Werk, das Vermissen des Lebens, das Vermissen von mir.**

* »Le jour arrive à cette heure sur sa figure, dessine les creux et les ombres des yeux et de la bouche, le décharnement presque instantané, me montrant, dans sa chair aimée, la sculpture rigide de la mort«, hatte Edmond einen Tag zuvor mit barocker Wucht notiert.
**Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 5, S. 123ff.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

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