Donnerstag, 30. Juni 2016

Ein seltsames Interesse

pro domo (aus dem Kontext gerissen)

ich beginne mit dem ersten satz und höre auf mit dem letzten, ohne etwas notwendiges zu überspringen und ohne irgendeinem teil eine besondere bedeutung zuzumessen. das ist sehr episch, vermute ich. für den epiker ist jedes detail ziemlich gleich liebenswert.

(Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 202. Dem folgt: »die abbildung kritisiere ich eigentlich nur vom abgebildeten her.« Dazu erstmal nichts …).

Rolltreppe (vergangene Nacht)

Schleuse (gestern)

Der Prophet flucht, weil er scheinbar als einziger die Zeichen nicht wahrhaben wollte

Als schließlich die Stimme des Zugchefs tatsächlich damit begann, über die in den Waggons angebrachten Lautsprecher den für die Position des Zuges zuständigen Text zu verlesen, man kennt das: Sehr geehrte Fahrgäste, wir erreichen in wenigen Minuten … und immer diese Entschuldigungen am Ende, weil man nicht pünktlich war, ausnahmsweise wieder einmal nicht … man hat sich daran gewöhnt, es ist halt die Bahn, also als die Stimme anhob, da schreckte Clemens desorientiert aus seinem Dämmer auf.

(aus: HannaH & SesyluS oder Eine Reise aus der Welt in drei Tagen, Berlin 2. ein wenig verbesserte Auflage 2012, S. 12).

Fenster #30

Montag, der 30. Juni 2014


[272 / 52]
Wir hatten vor einigen Wochen dem Busenfreund als dem engsten Vertrauten Hans Köberlins einen Teil unserer Langzeitdokumentation (die Kapitel I-IX) geschickt, um seine Meinung bezüglich der Angemessenheit unserer Darstellung zu erfahren. Hier seine Antwort …
gestern sechsstündige fahrt zurück in die hauptstadt, habe deine schilderung des faunischen lebens unseres freundes bis zur letzten seite gelesen und kam dann in den horror vacui. deine form, deine strukturierung hat es geschafft, sich zu verkoppeln mit dem wahrnehmen an sich; sie fehlte mir plötzlich, merkte, wie mein eigenes wahrnehmen defizitär wurde, weil ohne deine form auskommen müssend. las, um zumindest im modus des lesens wahrzunehmen, etwas später norberto bobbios vom alter – und darin ein zitat von dario belleza …
flüchtig ist die jugend
ein atemzug die reife
furchtbar naht
das alter und dauert
eine ewigkeit.
und dann ergab sich mir das gefühl, daß du mit deinem werk sabotage an dieser zementierten chronologieabfolge betrieben hast: die flüchtigkeit auf dauer zu stellen, auf die dauer eines tages, gestellt im gestell der widerständigen form des »diarisierens«; das vergehen als beständiges ausprobieren, dabei wissend, daß es keine vollständige wiederholung zu geben vermag. es ist unbemerkt dann so, daß mir nichts selbstverständlicher, nichts unbefragter ist denn dieser trias-sog aus literatrischer welt, geographischer welt und innenwelt! hat was von autopoiesis!
die einschläge ob der banalen probleme hans köberlins, der schlechten vergangenheit, der ungewißheit der zukunft werden im laufe des lesens in ihrem echo immer leiser, und gegen ende dann auch erste einschläge seines trockenen humors. stelle mir vor, daß berichte von dieserart einschlägen zunehmen werden.
der sog deines schreibens ist einer eigentlich unmöglichen konstellation geschuldet, in der literarische welt, chlodwig pothsche raumwelt, innenwelt niemals sich gegenseitig instrumentalisieren; die wechsel zwischen ihnen sind keine der flucht, sondern entspringen der möglichkeit, leidenschaftlich nicht tot zu sein (viktor von weizsäcker).
das exil als seinsform hans köberlins blieb nämlich im lesen gegenwärtig, trotz der schönen zeit mit der frau, die du zur sprache bringst; die schöne zeit mit der frau bleibt, ohne auch nur ein jota des im exilseins aufzuheben; der ort und die berge bleiben gegebener raum, ohne daß sie instrumentalisiert werden zu zu material für eine gewollte bewegung des sich einrichtens, heimischmachens, der »verortung«. vor allem aber machte sich mir mit chapeau evident, daß nirgends auch nur ein hauch von therapeuticum zu spüren ist. die zerrissenheit ist rigoros angenommen, aber gleichzeitig erinnerst du negativ dasjenige, was das gegenteil von zerissensein sein kann. es ist eine unglaubliche kraft darin, daß hans köberlin heillos bleibt und du nicht auf irgend lösung, erlösung, wie vermittelt auch immer, hinausschreibst.
unerträgliche vergangenheit touchiert die vergangenheit ertragbar machende vergangenheit des wortes; unmögliche gegenwart touchiert die gegenwart des möglichen (nämlich tatsächlich dort unten zu sein); soziale verzweiflung touchiert die freudenpräsenz in und mit und durch die frau …
einbergung im außen; frau als schönste form des außen.
warte auf die noch zu schreibenden seiten!
und: ich dank hans köberlin, daß er bleibt und wiederkommt!
bis gleich
Als wir das lasen, da waren wir beruhigt.*


* Zum wiederholten Mal: »Es ist kaum zu glauben, wie der geschriebene Satz den Menschen beruhigt und bändigt.« (Elias Canetti, Dialog mit einem grausamen Partner; in: Das Gewissen der Worte. Essays, Frankfurt am Main 1981, S. 54).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Mittwoch, 29. Juni 2016

Fenster #29

Sonntag, der 29. Juni 2014


[271 / 53]
Als sie in der lauen Sommernacht gegenüber der ›Tango Bar‹ medial kommunizierten, erzählte ihm die Frau, daß sie doch drei Tage früher kommen würde, weil sie den Geburtstag der Mutter an dem betreffenden Datum allein feiern und nicht zu dem großen Familienfest am Wochenende später gehen würde. Hans Köberlin war sehr froh darüber! Anschließend sprachen sie über Träume, und Hans Köberlin nahm sich einmal wieder vor, sich damit intensiver zu beschäftigen, das war schon lange überfällig.*


* Wie bereits mehrfach erwähnt: Freuds Traumdeutung hatte den Weg in Hans Köberlins Basisbibliothek gefunden.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Dienstag, 28. Juni 2016

Fenster #28

Samstag, der 28. Juni 2014


[270 / 54]
Und Hans Köberlin mußte einmal wieder an seine Lieblingshelden in der Geschichte denken, an die Lotophagen …*


* Viel, viel später, am Montag, dem 20. Juni 2016, in der S-Bahn auf dem Weg zur Fron, sollte er bei den Gebrüdern Strugatzki (Die Last des Bösen oder Vierzig Jahre später; in: Werkausgabe, hrsg. von Sascha Mamczak und Erik Simon, München 2. Aufl. 2011, Bd. 3, S. 393ff.) ähnliche Gestalten kennenlernen, nämlich die ›Nichtesser‹. Die hatten natürlich nichts mit der ganzen spirituellen Kacke (mit den sogenannten ›Lichtessern‹ et cetera) oder den Anorektikern – die physische Fraktion der spirituellen Kacke – zu tun, der Begriff stammte vielmehr aus der Erzählung Im Weltraum des sowjetischen Science-Fiction-Autors Илья Иосифович Варшавский. Der Protagonist der Strugatzkis, Igor W. Mytarin, stellte vier Klassen von ›Nichtessern‹ auf, von denen uns aber bloß die erste, als ›Elite‹ bezeichnete, interessierte. Dazu zählte Igor W. Mytarin die hausbackenen Philosophen, die gescheiterten Künstler, die Graphomanen aller Schattierungen, die nicht anerkannten Erfinder et cetera. Dies seien die Invaliden der schöpferischen Arbeit, bei denen der hartnäckige Drang zum schöpferischen Tun zwar vorhanden, schöpferisches Talent hingegen nicht, und daran seien sie zerbrochen. Georgi Anatoljewitsch (der, über dessen Schicksal Igor W. Mytarin berichtet) habe solche Menschen als Resonatoren und eine große Ausnahme, ein seltsames Aufbäumen in der Entwicklung der Zivilisation, bezeichnet (da fallen einem doch gleich die großen Verweigerer Onan und Hanno Buddenbrook ein). Da die Zivilisation ein Phänomen wie die Poesie hervorgebracht, müsse es auch Individuen geben, die zu nichts anderem taugten, als dazu, diese Poesie zu konsumieren. Sie seien nicht fähig, materielle oder geistige Werte zu schaffen, sondern nur, sie zu konsumieren und mit ihnen zu resonieren. Ihre Resonanz allerdings erweise sich als außerordentlich wichtig für einen schöpferischen Menschen, sie sei ein wichtiges Element der Rückkoppelung für den, der Geistiges hervorbringe. Und es sei seltsam, daß Tee-, Wein-, Kaffee- oder Käseverkoster geachtete Leute seien, wohingegen ein Degustator von Malerei als fauler Schmarotzer gelte … aber eigentlich sei es gar nicht so seltsam … Abgesehen davon, daß wir bei der Differenz Schöpfen / Verarbeiten – als elaborierte Art des Konsumierens – wie Brecht argumentieren würden …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Montag, 27. Juni 2016

Fenster #27

Freitag, der 27. Juni 2014


[269 / 55]
An guten Tagen wie diesem konnte er morgens am Playa Cantal Roig, mittags in der Cala Calaga und nachmittags vor dem Besuch der ›Tango Bar‹ am Playa La-Fossa-Levante schwimmen. Als die Brüder am Sonntag, dem 20. Februar 1860 schilderten, wie Flaubert im Mittelmeer baden gegangen, schreiben sie, er habe danach das Leben aus diesem Jungbrunnen mit sich gebracht.* So empfand das Hans Köberlin auch.
Und als er heute zu seinem dritten Schwimmen den kürzesten Weg zum Strand nahm, da hörte er, daß sich in der Jugendherberge ein Blechbläserjugendorchester einquartiert hatte. Auf dem Areal verteilt übten sie unabhängig voneinander in kleinen Gruppen, alle in Hörweite zueinander, hier wohl oder übel, aber es hörte sich ein wenig so an wie Stockhausens Sternklang.


* Vgl. Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 2, S. 384.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Sonntag, 26. Juni 2016

Fenster #26

Wochenendeende

Donnerstag, der 26. Juni 2014


[268 / 56]
Und er las bei Benjamin folgende Anekdote: »Ein großer pariser Nervenarzt wurde eines Tages von einem Patienten aufgesucht, der zum ersten Male bei ihm erschien. Der Patient klagte über die Krankheit der Zeit, Unlust zu leben, tiefe Verstimmungen, Langeweile. ›Ihnen fehlt nichts, sagte nach eingehender Untersuchung der Arzt. Sie müßten nur ausspannen, etwas für ihre Zerstreuung tun. Gehen Sie einen Abend zu Deburau [ein damals, in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, berühmter Komiker; H. K.] und Sie werden das Leben gleich anders ansehen.‹ ›Ach lieber Herr, antwortete der Patient, ich bin Deburau.‹«


* Walter Benjamin, Das Passagen-Werk; in: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1982, Bd. 5, S. 165. Nebenbei bemerkt: diese Anekdote besagte auch einiges über den Umgang mit der Realität bei den Nervenärzten.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Samstag, 25. Juni 2016

Mittwoch, der 25. Juni 2014


[267 / 57]
Hans Köberlin stieß während einer Recherche in seinem Arbeitsjournal unter dem Datum des 16. April 2009 – einem Donnerstag – auf einen vergessenen Eintrag, der ihn sich über sich selber amüsieren ließ: »Nachdem sich die süße kleine Celeste als Frömmlerin offenbart hat, ist niemand mehr unter Balzacs petits bourgeois, um den ich zittere. Sollen sie sich doch gegenseitig unglücklich und fertig machen.«*


* Er hatte, wie gesagt, die beiden von ihm noch nicht gelesenen Bände der Comédie humaine in seiner Basisbibliothek, mal sehen …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Freitag, 24. Juni 2016

Dienstag, der 24. Juni 2014


[266 / 58]
Am Dienstag, dem 24. Juni 2014, hatte Hans Köberlin, so erinnerte er sich, geträumt, er sei auf einem der Kieze der Hansestadt* in einer Kneipe und sähe dort zwei Gestalten aus der Halbwelt, der eine an einem Tisch sitzend und der andere Billard spielend. Dann, im weiteren Verlauf des Traums, war Hans Köberlin nochmals dorthin gekommen, und da war es bereits im Morgengrauen, die beiden hatten anscheinend die ganze Nacht so verbracht, am Tisch sitzend der eine und Billard spielend der andere. Hans Köberlin unterhielt sich mit ihnen, bestellte sich ein Bier und bat den, der am Tisch saß, um eine Zigarette. Als jener in seinen Taschen zu kramen begann, sagte Hans Köberlin schnell: »Ach nein danke, vergessen Sie es, ich rauche ja nicht mehr.«


* In seiner sehr rauschhaft verbrachten Lebensphase in der Hansestadt hatte Hans Köberlin auf der Suche nach sexuellen Abenteuern vornehmlich zwei Kieze konsultiert: den vor seiner Haustür und den nach dem Apostel, der selber wiederum als Fels bezeichnet worden war, benannten.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Donnerstag, 23. Juni 2016

Ein Mittel

In Augenblicken der Bangnis, die sie einander nicht eingestanden, half Schweigen.

(Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung, Frankfurt am Main 20. Aufl. 2014, S. 103).

Montag, der 23. Juni 2014


[260 / 64]
Borges hatte irgendwo* spekuliert, Verdammnis sei, eine für einen selber fatale Tat immer wieder wiederholen zu müssen. »Man muß dafür nicht die Verdammnis bemühen«, so Hans Köberlin, »man kann das auch als den gewöhnlichen Ablauf des Lebens und den eigenen blinden Fleck bei der Wahrnehmung des Ablaufs des Lebens und bei der Wahrnehmung seiner selber dabei bezeichnen.«


* Siehe etwa Jorge Luis Borges, Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1991ff., Bd. 14: Rose und Münze, S. 224.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Mittwoch, 22. Juni 2016

Sonntag, der 22. Juni 2014


[264 / 60]
Durch irgendwas wurde Hans Köberlin an Faulkners The Sound and the Fury erinnert, und zu seinem – es ›Entsetzen‹ zu nennen ist vielleicht übertrieben – Erstaunen hatte er vergessen, was das für ein Roman war.* Als er sich konzentrierte und in seiner Erinnerung der Name ›Benjy‹ auftauchte, da war alles wieder da.


* Man könnte zu Hans Köberlins Entschuldigung anführen, daß er von Frühling 2010 an innerhalb nur einen Jahres Faulkners sämtliche Werke hintereinander weggelesen hatte.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Dienstag, 21. Juni 2016

»… sofern er sie überlebt …«

Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.

(Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung, Frankfurt am Main 20. Aufl. 2014, S. 103).

Samstag, der 21. Juni 2014


[263 / 61]
»die zielstrebigkeit des schreibers eliminiert allzuviele tendenzen des zu beschreibenden zustandes«, hatte der Dialektiker Brecht am 31. Januar 1941 in seinem Exil beklagt.* Nun, bei dem ziellosen Postdialektiker Hans Köberlin bestand diese Gefahr in seinem Exil nicht, denn allzuviele Tendenzen des zu beschreibenden Zustandes eliminierten bei ihm die Zielstrebigkeit.


* Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 178.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Montag, 20. Juni 2016

Freitag, der 20. Juni 2014


[262 / 62]
Heute vor 144 Jahren war der letzte gemeinsame Tag, den die Brüder miteinander verbrachten, soweit man Julesʼ Agonie noch als ein ›Miteinander‹ bezeichnen konnte. Die Vertrautheit, die wir durch Hans Köberlins Heute-vor-Spiel mit den beiden im Verlauf unserer Langzeitdokumentation erlangt haben, legitimiert unserer Ansicht nach, das erschütternde Dokument seines Sterbens – das quasi live im Journal erfolgte* – hier in seiner ganzen Länge wiederzugeben …
Nacht von Sonntag auf Montag – Über ein kleines Gebetbuch gebeugt, das reine Profil von Pélagie, sein dunkler Schatten liegt auf dem weißen Berg von Kissen, inmitten derer sein Kopf verschwunden ist und – aus dem das Röcheln dringt.
Die ganze Nacht das herzzerreißende Geräusch einer Atmung, die wie eine Säge in feuchtem Holz klingt und das alle Augenblicke von schmerzlichen Klagen und jammervollen Ahs! skandiert wird. Die ganze Nacht diese Brust, die kämpft und das Laken hebt! Gott verschont mich nicht mit dem Todeskampf dessen, den ich liebe: wird er mir die Konvulsionen des Endes ersparen?
Das erste Tageslicht gleitet über sein Gesicht, das das erdige und backsteinartige Gelb des Todes angenommen hat, gleitet über seine tiefliegenden, tränenvollen. umdüsterten Augen.
Montag, 20. Juni, 5 Uhr morgens – In seinen Augen ein Ausdruck von Leiden und unsäglichem Elend.
Ein Wesen wie dieses erschaffen, so begabt, so klug, und es mit neununddreißig Jahren vernichten! Warum?
9 Uhr – In seinen trüben Augen plötzlich ein lächelndes Aufleuchten, bei dem ein verschwommener Blick lange auf mir liegt und dann langsam in die Ferne taucht … Ich berühre seine Hände: feuchter Marmor.
9 Uhr, 40 Minuten – Er stirbt, eben ist er gestorben. Gott sei gelobt! Er starb nach zwei oder drei Seufzern eines kleinen Kindes, das einschläft.
Wie grauenhaft unter den Laken die Reglosigkeit dieses Körpers, der nicht mehr das leichte Aufwallen der Atmung besitzt, der im Bett nicht mehr das Leben des Schlafes hat.
Seine Augen haben sich mit dem Leidensblick seiner letzten Lebenstage wieder geöffnet. Sein Kopf liegt etwas höher auf den Kissen, und er scheint mit dem Ausdruck stolzer Verächtlichkeit zu lauschen, den er hatte, wenn Prudhomme sprach. Von seiner ganzen Physiognomie scheint eine leicht sarkastische Traurigkeit auszugehen. Sein Blick scheint einem zu folgen, nachdem man ihn geküßt hat; und man hätte mitunter die Illusion des Lebens, wenn man nicht am Ende seiner bleichen Hände das Violett seiner Nägel vorfände.
Das Magny-Diner wurde von Gavarni, Sainte-Beuve und uns gegründet. Gavarni ist tot, Sainte-Beuve ist tot. Mein Bruder ist tot. Wird sich der Tod mit einer Hälfte von uns begnügen oder wird er bald mich holen? Ich bin bereit.
Je länger ich ihn betrachte, je mehr ich seine Züge studiere, desto mehr finde ich auf diesem Gesicht einen Ausdruck seelischen Leidens, den ich bei keiner einzigen Physiognomie im Tod habe anhalten sehen, desto mehr bin ich betroffen von seiner herzzerreißenden Traurigkeit. Und mir ist, als läse ich darin, jenseits des Lebens, den Schmerz über das abgebrochene Werk, das Vermissen des Lebens, das Vermissen von mir.**

* »Le jour arrive à cette heure sur sa figure, dessine les creux et les ombres des yeux et de la bouche, le décharnement presque instantané, me montrant, dans sa chair aimée, la sculpture rigide de la mort«, hatte Edmond einen Tag zuvor mit barocker Wucht notiert.
**Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 5, S. 123ff.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Sonntag, 19. Juni 2016

Donnerstag, der 19. Juni 2014


[261 / 63]
Unerwartet las Hans Köberlin im Merkur des Vorvormonats den Namen ›Hackländer‹, der ihm seit seiner Beschäftigung mit Arno Schmidts Abend mit Goldrand nicht mehr untergekommen war.


* Christian Demand, »I have seen the future«; in: Merkur, Nr. 779, April 2014, S. 329f.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Samstag, 18. Juni 2016

Mittwoch, der 18. Juni 2014


[260 / 64]
… und angesichts dieses Filmkalenderblatts mußten wir natürlich an unseren zweiten Bericht über die seltsamen Abenteuer des Clemens Limbularius denken …*


* Vgl. vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 507: »Ohne die Hausbesetzer gäbe es diesen Platz jetzt so nicht mehr, erklärte der Busenfreund Clemens. Ja, er wisse das, Rudolf Thome habe jener Zeit und diesem Ort ein filmisches Denkmal gesetzt … der in eine junge Hausbesetzerin verliebte Architekt, Hanns Zischler am Klavier, für sie singend, und eine Liebeserklärung an die Hauswand sprühend … Rudolf Thome sei überhaupt der Regisseur der Liebe und – bei seinen späteren Filmen – auch der des Glücks.«

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Freitag, 17. Juni 2016

Dienstag, der 17. Juni 2014


[259 / 65]
… jene Verse Borgesʼ aus der Milonga del forastero, die Milonga, in der er den Idealtypus eines Showdowns – gleich ob mit Messern, Colts oder Samuraischwertern – beschrieben …
Siempre el que muere es aquél
Que vino a buscar la muerte.
»Nun: ich lebe«, sagte Hans Köberlin sich, »alles andere wäre bloß aus Faulheit, Trägheit oder Bequemlichkeit heraus passiert.


* Jorge Luis Borges, Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1991ff., Bd. 14: Rose und Münze, S. 222.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Donnerstag, 16. Juni 2016

Montag, der 16. Juni 2014


[258 / 66]
Montag, den 16. Juni 2014: Bloomsday! Heute vor 110 Jahren … Und Hans Köberlin erinnerte sich daran, daß er sich am Samstag, dem 4. Januar 2014, vorgenommen, daß er, sollte er am Bloomsday noch hier sein, dann zurück an diesen Samstag, den 4. Januar 2014, denken und mit sich selber ein Glas Wein auf den Tag und auf die Frau nebenan und auf seine Gefühle für sie und auf seine Gefühle hier an diesem Ort, seinem Schicksalsort, trinken wolle.*


* Siehe Samstag, den 4. Januar 2014.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Mittwoch, 15. Juni 2016

Sonntag, der 15. Juni 2014


[257 / 67]
Und dann las Hans Köberlin bei Borges von einer Passion, von der er gedacht hatte, so verrückt sei nur er als Autor. Vyvyan Richards, so Borges, berichte in seinem Portrait von T. E. Lawrence (of Arabia), jener sei für die gefährliche Passion der Typographie so empfänglich gewesen, daß er oft seine Texte gekürzt oder erweitert habe, damit jede Seite seines Buches makellos sei.* Genau das machte Hans Köberlin auch, meist erweitern … und das letzte Mal hatte er das bei seiner Fertigstellung von Telos gemacht.


* Vgl. Jorge Luis Borges, Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1991ff., Bd. 4: Von Büchern und Autoren, S. 25f.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Dienstag, 14. Juni 2016

In the future

Die Fahrzeuge werden in der Zukunft nicht mehr nach aerodynamischen Aspekten konstruiert sein, das hat man nicht mehr nötig, die Widerstände der materiellen Realität werden fast vollkommen überwunden sein, man kann sich erlauben, ihr, der Realität, mit dekadenten Formen zu trotzen. ›Effizienz‹ wird als unzivilisierte Kategorie gelten.

Pfeffers Einsicht

Dabei arbeiten fast alle. Fast keiner drückt sich, sogar nachts wird gearbeitet. Alle sind dauernd beschäftigt, niemand hat Zeit. Den Anordnungen wird Folge geleistet, das weiß ich, das habe ich selber gesehen. Es hat also den Anschein, als sei alles in Ordnung. Die Wachleute bewachen, die Kraftfahrer fahren, die Ingenieure bauen, die Wissenschaftler schreiben Artikel, die Kassierer zahlen Geld aus … Hm, vielleicht ist dieses ganze Karussell ja nur dazu da, damit alle immer arbeiten?

(Arkadi & Boris Strugatzki, Die Schnecke am Hang; in: Werkausgabe, hrsg. von Sascha Mamczak und Erik Simon, München 2. Aufl. 2011, Bd. 3, S. 256).

als-ob

Samstag, der 14. Juni 2014


[256 / 68]
Nachdem er diese Nachricht, die er so lange in Gedanken durchgekaut, verschickt hatte, fühlte sich Hans Köberlin erschöpft und legte sich aufs Bett und schlief über den letzten Seiten der Historia de la eternidad von Borges, der heute vor 28 Jahren verstorben war, ein. Es war ihm leider kein solcher Borgestraum vergönnt, wie Clemens Limbularius ihn einst gehabt.* Der kurze Halbdämmerschlaf erfrischte Hans Köberlin, er beendete, als er daraus erwacht,** die Lektüre dieses Bandes, des dritten, um sich anschließend den vierten Band der Werke – Textos cautivos – vorzunehmen.


* Siehe vom Verf. … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 29ff. Clemens Limbulariusʼ Traum fasziniert uns noch nach aöö den Jahren, weshalb wir uns erlauben, ihn hier anzuführen: »Einmal (…) hatte er [Clemens Limbularius] das erstaunliche Glück gehabt, sich als Autor einer Erzählung mit Jorge Luis Borges als Autor einer Erzählung zu träumen: er träumte kurz vor sechs Uhr morgens (wie er später auf dem Radiowecker sah), daß Borges morgens vor dem Aufwachen träumte, daß ein Mann sich im Garten des Patio eines Hauses mit dem Liebhaber seiner Frau duellierte, ihn dabei erschoß oder mit dem Messer erstach (ahí están los soberbios cuchilleros y el peso de la daga silenciosa …) und anschließend in dem Garten begrub. Borges erzählte den Traum seiner Frau. Die bereitete sich gerade auf einen Wettkampf vor, bei dem es darum ging, in einem Becken im Wasser stehend einem Kälbchen mit einem Messer den Kopf abzuschneiden. Die Frau ging vor den Augen der Kampfrichter in das Wasser, das der Frau aber viel zu kalt war. Sie watete deshalb an die Ecke des Beckens und drehte den Hebel des Wasserhahns auf heiß und ließ heißes Wasser ein. Dann watete sie, während ihre Rivalin noch am Beckenrand stand und das heiße Wasser noch einlief, mit ihrem großen Messer auf das Kälbchen zu, drehte es auf den Rücken, was im Wasser ziemlich leicht zu bewerkstelligen war, bog ihm den Kopf zurück und schnitt ihm in die Kehle, durch Haut und Fleisch und Sehnen und durch die Luft- und Speiseröhre, also durch alles bis auf die Wirbelsäule, dann schnitt sie in diese, so fest und so weit sie konnte, etwa bis zur Hälfte, um schließlich den Kopf vom Körper einfach abzubrechen. Der hing dann bloß noch an der Nackenhaut am Körper (über das Blut bei der Prozedur hatte Clemens bei seiner Traumniederschrift nichts vermerkt). Borges’ Frau hatte also gewonnen und ihre Rivalin war traurig. Um ihre Rivalin, die auch ihre Freundin war, zu trösten, sagte Borges’ Frau, sie, die Freundin, habe zwar diesen Wettbewerb verloren, sei aber dafür die bessere Geschichtenerzählerin, sie solle ihr doch eine Geschichte erzählen. Die Freundin ließ sich derart trösten und meinte, sie habe erst heute am frühen Morgen eine Geschichte geschrieben. Darin ginge es um einen Mann, der herausbekommen habe, daß seine Frau ihn betrüge. Der Mann habe daraufhin seinen Nebenbuhler in den Garten des Hinterhofes des Hauses, in dem er lebte, gelockt, ihn dort in einem Duell getötet (ahí están los soberbios cuchilleros y el peso de la daga silenciosa …) und ihn anschließend im Garten begraben. Clemens kam im Traum darauf, daß es Borges darum ging, daß wann immer jemand eine Geschichte aufschrieb, ein anderer diese Geschichte träume, und Clemens wachte über diesem Gedanken, daß etwas mit etwas in einem Zusammenhang stand, den es eigentlich nicht geben sollte, auf.«
** Was, wenn wie bei Dornröschen hundert Jahre vergangen wären? – Seine Prinzessin hatte ihn nicht wachgeküßt.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Montag, 13. Juni 2016

Freitag, der 13. Juni 2014


[255 / 69]
Brecht hatte sich nämlich am 14. Januar 1941 gefragt, »ob vorkehrungen, wie die komödie sie trifft zur verhütung einer einfühlung des publikums, auch vom tragischen schauspieler getroffen werden können.«* Hans Köberlin suchte in seinem Gedächtnis nach entsprechenden Beispielen … … … ‒: ihm fielen keine ein.** Wie sollte sich auch die Beobachtung von Tragik der Emphase entziehen können? Und wenn eine Figur einem unsympathisch, war, dann empfand man ihr Leiden auch nicht als tragisch, sondern als verdient.
»Na!«
Und einen Tag (und zwei Seiten) später: »ebenso wie der einfühlakt kann auch der v-effekt auf suggestiver basis ausgeübt werden.« Das, so Hans Köberlin, war das, was Godard seit Sauve qui peut (la vie) (1980) machte.


* Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 170.
** Wir hatten für einen Moment erwogen, … ‒ Aber nein!

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Sonntag, 12. Juni 2016

Donnerstag, der 12. Juni 2014


[254 / 70]
Schauen wir doch einfach einmal, was gewesen, als die Relation noch umgekehrt, erst 70 Tage hier und – was Hans Köberlin damals, am Dienstag, dem 10. Dezember 2013, allerdings noch nicht gewußt – 254 Tage noch offen bis zu seiner Rückkehr* …: er hatte nicht gut geschlafen, was aber hier nach wie vor nichts ausmachte, weil die Zukunft, der Feind, immer noch abstrakt war, er hatte auf der anderen Dachterrasse gefrühstückt, er hatte Kierkegaard gelesen, er hatte eine kryptische Nachricht bezüglich Telos von dem Busenfreund erhalten, er hatte in der ›Tango Bar‹ gesessen und dort ausnahmsweise sogar sein Abendessen eingenommen und er hatte am Abend dieses Tages auf einen der eh meist schlechten Fernsehkriminalfilme verzichtet. – Ah …: »La fuga del tiempo, que al principio nunca pasa.«**


* Siehe hier [sogar die Bilder waren ähnlich gewesen … purer Zufall! … und diese Anmerkung steht auch nicht im Roman].
** Jorge Luis Borges, Buenos Aires, 1899; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1991ff., Bd. 14: Rose und Münze, S. 218.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Samstag, 11. Juni 2016

Fenster #25

Ein Stratege spricht aus Erfahrung

als ob nicht gerade das gute unbedingt am meisten reklame, intrige und schiebung benötigte!

(Bertolt Brecht, Arbeitsjournal. 2 Supplementbände zu den gesammelten Werken, Frankfurt am Main 1974, S. 175).

Mittwoch, der 11. Juni 2014


[253 / 71]
Edmond hatte am Montag, dem 14. August 1882, von einem als »B***« anonymisierten Mann berichtet, der, so der Chronist, unter einem gedanklichen Stammeln laboriere: der Gedanke stolpere bei ihm, wie bei einem anderen das Wort.* Sollte Hans Köberlin sprechen müssen, da stolperten auch bei ihm, dem Soziophoben, wie bei den anderen nicht-B***s, die Worte. Hans Köberlins Gedanken jedoch stammelten nicht, sie ließen sich zügig denken, allerdings nicht teleologisch linear, selbst wenn sie auf etwas Konkretes hinauswollten. Hans Köberlin dachte kreisförmig oder labyrinthisch und dabei sprunghaft. Er dachte nicht effizient, wie er, der Verschwender, überhaupt kaum etwas in seinem Leben effizient tat. Und mit seinen Ineffizienzsystemen konnte er sich auf den Ablauf seiner Umwelt leicht wie ein Saboteur auswirken, als Sand in einem an sich reibungslosen Getriebe.


* Vgl. Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 7, S. 127.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Freitag, 10. Juni 2016

Fenster #24

Dienstag, der 10. Juni 2014


[252 / 72]
Für Hans Köberlin begann an diesem Dienstag, dem 10. Juni 2014, die mit 32 Tagen zweilängste Phase des Alleinseins hier an der weißen Küste.* Er öffnete beide Fenster hinter seinem Schreibtisch (striptease table) und hoffte, sie vor dem Tag ihrer Abreise im August nicht wieder schließen zu müssen.


* Die ersten beiden Phasen brachten es zusammen mit dem Tag ohne die Frau nach dem ersten Abschied auf dem Flughafen auf 34 Tage, die dritte Phase umfaßte 31 Tage, vgl. unten im Anhang das Inhaltsverzeichnis nach Tagen und Monaten.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XXI [Phase 9 – oder: Die letzte Phase], 10. Juni bis 11. Juli 2014).

Donnerstag, 9. Juni 2016

»It is the evening of the day …«

Fenster #23

Montag, der 9. Juni 2014


[251 / 73]
Und Hans Köberlin schrieb, während er mit John Zorns I. A. O. im Ohr das angeblich höchste Wohnhaus Europas im größten Badeort Europas passierte, in sein Arbeitsjournal: »17 Uhr im Bus. Jetzt beginnt die letzte ›Phase‹. Es wird vom Klima ein wenig wie am Anfang sein. Ein letzter Besuch wird folgen und dann die prolongierte Fahrt zurück in die Hauptstadt und dann … Unruhiger Schlaf in der Hitze und lästige Träume, dann ein schöner Abschied von der Frau (soweit ein Abschied schön sein kann). Zum letzten Mal werde ich mich von ihr verabschieden, wahrscheinlich …* Gammeln auf diesem Aeropuerto. Habe heute passend vor dem Beginn der letzten ›Phase‹ D’Alemberts Ende zu Ende gelesen. Am Ende geht es dort um die Poetik des Buchs.«


* Irgendwann würde natürlich noch der wirklich letzte Abschied kommen, aber an den dachte Hans Köberlin natürlich nicht und wir sind uns unserer Pietätlosigkeit bewußt, wenn wir ihn hier anmerken. Außerdem sollte, wie bereits angedeutet, noch ein unvorhergesehener Zwischenfall einen Kurzabschied während des letzten Besuches notwendig machen.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XX [Der vierte Besuch der Frau], 6. bis 9. Juni 2014).

Mittwoch, 8. Juni 2016

Fragen …

Wieso diese Freundlichkeit des Wirtes?

(Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung, Frankfurt am Main 20. Aufl. 2014, S. 43).

Sonntag, der 8. Juni 2014


[250 / 74]
Dabei fiel Hans Köberlin ein Dialog ein …
»Wovon haben Sie geträumt, Pfeffer?«, fragte Alewtina von oben herab.
Pfeffer blickte hinauf, senkte aber sogleich wieder den Blick.
»Was ich geträumt habe? Irgendeinen Blödsinn. Daß ich mich mit Büchern unterhalten habe.«
Er leerte sein Glas und nahm sich ein Stück Apfelsine.*
Dies war Hans Köberlin eingefallen, weil er nie unter einer Leiter, auf der eine Frau stand, stehend den Blick senken und dann noch weil er nie eine Unterhaltung mit Büchern – und schon garnicht so eine, wie sie Pfeffer imaginiert hatte – als Blödsinn bezeichnen würde. Und sein Apfelsinenbaum war zwar abgeerntet, aber Wodka hatte er noch genug im Haus.


* Arkadi & Boris Strugatzki, Die Schnecke am Hang; in: Werkausgabe, hrsg. von Sascha Mamczak und Erik Simon, München 2. Aufl. 2011, Bd. 3, S. 73.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XX [Der vierte Besuch der Frau], 6. bis 9. Juni 2014).

Dienstag, 7. Juni 2016

Samstag, der 7. Juni 2014


[249 / 75]
Die Frau hatte von Sonnencreme-Einreibern am baltischen Meer gehört …
»Sicher so eine Ich-AG, so ein Ein-Euro-Jobber.«
»Er nahm schon mehr.«
»Hast du es aus dem Abendjournal
»Nein, ich habe es in irgendeiner Zeitung gelesen. Man spielte darauf an, wer wohl mehr davon habe, der Cremer oder die Eingecremten.«
»An der Ostsee ist der Altersdurchschnitt niedriger als hier … aber nicht viel …«
»Man sah auf dem Bild einen athletisch gebauten jungen Mann.«
»Kafkas Auf der Galerie …: Wenn fette alte Säcke junge dralle Frauen eincremten, die auch noch dafür bezahlten …«*


* Jorge Luis Borges, Poema de la cantidad; in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1991ff., Bd. 12: Schatten und Tiger, S. 164 …
Acaso cada hormiga que pisamos
Es única ante Dios, que la precisa
Para le ejecución de las puntuales
Leyes que rigen Su curioso mundo.
Si así no fuera, el universo entero
Sería un error y un oneroso caos.
(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XX [Der vierte Besuch der Frau], 6. bis 9. Juni 2014).

Montag, 6. Juni 2016

»It is the evening of the day …«

Das Wesentliche



… trotzdem ist man beruhigter, wenn man von Tag zu Tag weiß, daß die Welt weitergeht.

(Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung, Frankfurt am Main 20. Aufl. 2014, S. 37).

»Un célèbre médecin de Belgique«

Jʼai une voisine qui a une maladie de femme, et qui va en consultation, tous les ans, chez un célèbre médecin de Belgique. Cette année-ci, il lui a demandé, si elle avait un calorifère dans sa maison. Sur sa réponse affirmative il lui a dit: »Eh bien, cʼest tout à fait inutile que je continue à vous soigner.«

(Edmond & Jules de Goncourt, Journal. Erinnerungen aus dem literarischen Leben, Leipzig 2013, Bd. 7, S. 164).

Freitag, der 6. Juni 2014


[248 / 76]
Und er dachte, daß er am Montag, wenn er die Frau zum Aeropuerto bringen würde, das letzte Mal mit dem Omnibus diese Strecke fahren würde.* Vielleicht umrundete man im Sommer ja nochmals die Sierra de Oltà, aber andere Wege … nie die Chance einer Wiederholung … Und wie oft würde er das Bett noch überziehen? Wahrscheinlich höchstens noch zwei Mal …**


* Da täuschte er sich.
** Auch da täuschte er sich: die Frau sollte bei ihrem letzten, längeren Besuch hier für die ein oder andere weitere Frischüberziehung des Bettes sorgen.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XX [Der vierte Besuch der Frau], 6. bis 9. Juni 2014).

Sonntag, 5. Juni 2016

Donnerstag, der 5. Juni 2014


[247 / 77]
Der Zitatenkalender zeigte an diesem Tag auf seinem Tagesblatt einen Cartoon von Michael Pleesz mit einer geilen Schlampe im durchsichtigen Negligé über üppigen Titten mit steif aufgerichteten Brustwarzen und mit knappem Slip über der vermutlich rasierten Muschi, den Lutschmund zornig halboffen und mit dem Finger auf den Betrachter zeigend, und darüber stand »SEXIST!«*


* Im Jahr darauf sollte es keine geile Schlampe im durchsichtigen Negligé über üppigen Titten mit steif aufgerichteten die Brustwarzen und knappem Slip über der vermutlich rasierten Muschi, den Lutschmund zornig halboffen, geben, sondern bloß ein Zitat von Edmond de Goncourt, rein zufällig der letzte, das Trinken betreffende Absatz just jenes Notats, das Hans Köberlin zum Ende dieses Tages für sein heute-vor-…-Spiel nachschlagen sollte.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).

Samstag, 4. Juni 2016

Mittwoch, der 4. Juni 2014


[246 / 78]
Hans Köberlin fuhr mit seinem die-Frau-kommt-bald-Ritual fort und putzte hinten das Bad und saugte hinten die Wohnung* und putzte anschließend vorne das Bad und die Fenster im Schreib- und Lesezimmer.


* Als Hans Köberlin den Busenfreund kennengelernt, da hatte der ein weißes T-Shirt getragen, auf dem man in Courier bold gedruckt das Wort ›saugen‹ hatte lesen können …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).

Freitag, 3. Juni 2016

Dienstag, der 3. Juni 2014


[245 / 79]
Sein Leben lang hatte Hans Köberlin schmerzlich am eigenen Leibe erfahren müssen, wie weise jene Einsicht Senecas gewesen, es sei sehr nützlich, Menschen aus dem Wege zu gehen, die einem nicht glichen und die von anderen Wünschen beherrscht würden.*


* Wenn wir uns recht erinnern, hatte der dies in seinem dreißigsten Brief an Lucillus geschrieben.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).

Donnerstag, 2. Juni 2016

Montag, der 2. Juni 2014


[244 / 80]
Und die Frau meinte während ihrer medialen Kommunikation an der Promenade zu ihm, sie würde gerne einmal nach Island reisen, einmal müsse sie es gesehen haben. Der vergeßliche Hans Köberlin, der sich an keine Region der Erde, an der sich die Temperatur unter zehn Grad Celsius senkte, erinnern konnte, sagte bloß zerstreut: »Wegen mir.«*


* Ihm fielen jene Verse Borgesʼ ein …
Yo quiero recordar aquel beso
Con el que me besabas es Islandia.
(Jorge Luis Borges, Gunnar Thorgilsson (1816-1879); in: Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Frankfurt am Main 1991ff., Bd. 14: Rose und Münze, S. 214).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).

Mittwoch, 1. Juni 2016

Sonntag, der 1. Juni 2014


[243 / 81]
Draußen war es noch immer bedeckt und ziemlich stürmisch, Hans Köberlin war mit sich uneinig, ob er unter diesen Bedingungen überhaupt laufen und schwimmen wollte, und wenn, so sagte er sich, dann bloß mit dem Regencape im Rucksack. Er ging dann im Kimono aus dem Haus und ging auf die hintere Dachterrasse, die Lage zu erkunden …: nein, er würde heute nicht laufen und schwimmen. Wenn er die Tour vom Dezember durch das Hinterland wirklich wiederholen wollte, dann wäre heute der richtige Tag dafür. Nach drei Uhr, so nahm er sich vor, nach einem Gläschen irgendwas für das Sentiment, Sherry eventuell, dann raus und die Tour machen und dann in die ›Tango Bar‹.


* Schade, wo er sich doch bereits vorgenommen, Zappas Chungaʼs Revenge zu hören. Aber es wird sich bestimmt noch einmal die Möglichkeit, von dieser Konstellation ‒ laufen im Exil mit Chungaʼs Revenge im Ohr und mit schwimmen zwischendurch ‒ zu berichten, ergeben.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XIX [Phase 8], 22. Mai bis 5. Juni 2014).