Dienstag, 27. Oktober 2015

Sonntag, der 27. Oktober 2013


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»Mir war so ruhig zu Mut, so, als könne mir von nun an nichts Böses mehr, nichts Unschönes mehr begegnen.«*
Plötzliche Einsichten blitzten ihm auf, beim Laufen, beim Schwimmen, während des Frühstücks, während des Duschens, beim Zähneputzen, beim Rasieren, bei seinen Gängen auf der Promenade und auf die Playas und in der ›Tango Bar‹ und im Ort … blitzten also auf und verschwanden wieder. Hans Köberlin kam dazu, über sein Verhalten in Räumen nachzudenken und kam darauf: alles wurde reflexiv.
»Ich sann über mein eigenes Sinnen nach und machte mir über die eigenen Gedanken wieder Gedanken.«**
Er war dabei, alle möglichen Wegvarianten zwischen seinem Haus und dem Strand zu erkunden und legte sich Routen für alle möglichen Anlässe zurecht (später sollte er sein Routenrepertoire nach Norden hin erweitern, aber dazu mehr, wenn es soweit war). Es kristallisierten sich zwei Hauptrouten heraus …
  • der direkte Weg zum Meer: Hans Köberlin verließ das Haus durch das obere Tor, überquerte die Ausfallstraße (die nicht, wie er lange geglaubt, zu der durch die Berge des Hinterlands verlaufenden Nationalstraße führte, sondern zu dem nächsten Ort an der Küste), ging in die gegenüberliegende Gasse bis zu einem großen Hotel mit roter Fassade und gelben Balkonen, das nicht sonderlich hoch, aber wuchtig wie ein altes Schlachtschiff (Bronenosets Potemkin, 1925) dalag, ging rechts und dann gleich wieder links und sah von da bereits am Ende der Gasse den (naturgemäß, aber selten auf seinen Bildchen) waagerechten Horizont hinter der schräg nach rechts abfallenden Straße. Wenn er diese Straße am Meer entlang hinabging, dann kam bald der Anfang der Promenade, auf der man, rechterhand flankiert von Hochhäusern die Steilküste entlang zum Strand und zu der ›Tango Bar‹ kam;
  • der kürzeste Weg zum Strand: Hans Köberlin verließ das Haus durch das untere Tor, überquerte die Ausfallstraße, ging sie ein paar Meter hinab, bog dann links in eine Gasse, dann gleich wieder rechts bis zu einer größeren Straße, überquerte sie, ging dann rechts – nicht ohne dabei stets an Gina Lollobrigida zu denken*** – am ›Hotel Esmeralda‹ vorbei entlang eine kleinen Parkplatzes und kam dann schon an der Promenade heraus, an der dann gleich die ›Tango Bar‹ kam. Dazu kam später noch …
  • der längste Weg am Meer: Hans Köberlin verließ das Haus durch das obere Tor, ging dann zu übernächsten oder überübernächsten Straße und überquerte dann erst die Ausfallstraße und kam so, vorbei an der ›Casa Wagner‹, die nichts mit dem Bayreuther zu tun hatte, weiter oben an der Steilküste heraus.
Bei seinen morgendlichen Dauerläufen nahm er hin und zurück den direkten Weg zum Meer, er nahm ihn auch, wenn er zum nachmittäglichen Schwimmen ging, zurück ging er dann jedoch den kürzesten Weg zum Strand, der nun, vice versa, der kürzeste Weg zu seinem Haus war, und wenn er nachts an die Promenade ging, um mit der Frau medial zu kommunizieren, dann ging er den kürzesten Weg zum Strand und zurück so lange wie möglich am Meer auf der Promenade und an der Steilküste entlang und an dem Hotelschlachtschiff – seinem potemkinschen Dorf – vorbei.


* Robert Walser, Im Wald; in: Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Jochen Greven, Zürich und Frankfurt am Main 1985, Bd. 16: Träumen. Prosa aus der bieler Zeit 1913-1920, S. 14.
** Ebd., S. 13.
*** Wegen Jean Delannoys Verfilmung von Hugos Notre-Dame de Paris aus dem Jahr 1957, in der Anthony Quinn den Quasimodo spielte … Gina Lollobrigida … hier das eben bei Sophia Loren ausgelassene: »… wie sie als schöne Zigeunerin Esmeralda als ein ›natürlicher Mensch‹ inmitten einer bizarren, besessenen und erstickenden (Männer-)Welt erschienen war, der die mühsam unterdrückten Triebregungen wieder erweckt, zugleich aber auch die Fähigkeit zu reiner Liebe schafft« (Georg Seeßlen, Erotik. Ästhetik des erotischen Films, Marburg 3. Auflage 1996, S. 84.). Wie bei der Adaption von Ecos Roman, so blieb auch bei dieser Hugoverfilmung der weiblichen Protagonistin der im Roman vorgesehene Tod auf dem Scheiterhaufen erspart, vielleicht aus ähnlichen Motiven, die Schiller dazu veranlaßten, seine Johanna nicht verbrennen, sondern enthaupten zu lassen.

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).