Sonntag, 11. Oktober 2015

»… richtig, das heißt realitätsgerecht«?

Der Prozeß der (Selbst-)Sozialisation kann mithin als Prozeß der Bildung von Erwartungen begriffen werden, die ihrerseits dann regulieren, welche Ereignisse für das System möglich sind.
Erwartungen haben ihre wichtigste Eigenschaft darin, daß sie enttäuscht werden können. Sie markieren das Erwartete als kontingent; und wenn etwas in der Modalität des Notwendigen erwartet wird, so ist Notwendigkeit nichts anderes als Alternativenlosigkeit, als negierte Kontingenz. Es ist also nicht die Stabilität, sondern gerade die Labilität der Strukturen, die ihre Funktion im Persönlichkeitsaufbau und in der Genese von ich-Bewußtsein erklärt.
Erwartungen ermöglichen nämlich einen Doppeltest: Wenn sie erfüllt werden, kann dies kein Zufall sein, sondern indiziert den Realitätswert der Erwartung. Wäre die Erwartung ein rein internes Konstrukt, wären Erfüllung und Enttäuschung gleich wahrscheinlich. Man kann an der Bestätigung von Erwartungen also ablesen, daß man richtig, das heißt realitätsgerecht, erwartet hatte (ohne daß daraus folgen würde, daß die Erwartung ein »Bild« der Umwelt in das System transferiert). Aber auch die Enttäuschung von Erwartungen kann als Test benutzt werden. Wenn die Erwartung trotz Enttäuschung durchgehalten werden kann, beweist dies Ich-Stärke. Man bildet aus diesem Anlaß Sollwerte und Normen und bescheinigt sich selbst die Kraft, die projektierte Erwartung kontrafaktisch auch im Enttäuschungsfalle durchzuhalten.

(Niklas Luhmann, Sozialisation und Erziehung; in: Schriften zur Pädagogik, hrsg. und mit einem Vorwort von Dieter Lenzen, Frankfurt am Main 2004, S. 115).

Geduld – Hoffnung der Verdammten

»For ever! For all eternity! Not for a year or for an age but for ever. Try to imagine the awful meaning of this. You have often seen the sand on the seashore. How fine are its tiny grains! And how many of those tiny little grains go to make up the small handful which a child grasps in its play. Now imagine a mountain of that sand, a million miles high, reaching from the earth to the farthest heavens, and a million miles broad, extending to remotest space, and a million miles in thickness: and imagine such an enormous mass of countless particles of sand multiplied as often as there are leaves in the forest, drops of water in the mighty ocean, feathers on birds, scales on fish, hairs on animals, atoms in the vast expanse of the air: and imagine that at the end of every million years a little bird came to that mountain and carried away in its beak a tiny grain of that sand. How many millions upon millions of centuries would pass before that bird had carried away even a square foot of that mountain, how many eons upon eons of ages before it had carried away all? Yet at the end of that immense stretch of time not even one instant of eternity could be said to have ended. At the end of all those billions and trillions of years eternity would have scarcely begun. And if that mountain rose again after it had been all carried away, and if the bird came again and carried it all away again grain by grain: and if it so rose and sank as many times as there are stars in the sky, atoms in the air, drops of water in the sea, leaves on the trees, feathers upon birds, scales upon fish, hairs upon animals, at the end of all those innumerable risings and sinkings of that immeasurably vast mountain not one single instant of eternity could be said to have ended; even then, at the end of such a period, after that eon of time the mere thought of which makes our very brain reel dizzily, eternity would scarcely have begun.«
(James Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man).

Aber es käme immer noch eine Zahl dabei heraus, wenn auch eine ziemlich große. ›Ewigkeit‹ ist jedoch keine Bezeichnung für eine Quantität, sondern eine Bezeichnung für eine Qualität.

Freitag, der 11. Oktober 2013


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Es war in der Tat das erste Mal in seinem Leben, daß er freiwillig (wenn auch nicht ohne Not) die Trennung von einer geliebten Frau inkaufgenommen hatte. Er blickte noch einmal zurück, seine Eurydike jedoch, wie er bei seinem Blick zurück sah, tat dies nicht, beziehungsweise: sie hatte es da getan als er es nicht getan, wie sie ihm später erzählte. Hans Blumenberg hatte völlig zurecht die »Wegtrennung« zu den »unversöhnlichen Grundformen des Daseins« gezählt.
Apropos Orpheus: an dem Tag dieses sehr traurigen Abschieds vor fünfzig Jahren, am 11. Oktober 1963 also (da war Hans Köberlin dreieinhalb Jahre alt gewesen), da war, wie Hans Köberlin nach seiner Heimkunft von dem Filmkalenderblatt, das Jean Marais in Orphée (1950) zeigte, erfuhr, der große Jean Cocteau verstorben. Auf dem Filmkalenderblatt war statt des Kreuzes irrtümlich (von Hans Köberlin dann mit Bleistift korrigiert, bevor er es in seine Filmkalenderblattsammelkiste legte) ein Asterisk vermerkt.* Hans Köberlin erinnerte sich an Godards heikles – da die beiden Freunde sich ja vertodfeindet – Vorwort zu der Ausgabe mit Truffauts Briefen, wie der ein Bild von der Premiere von Les 400 Coups (1959) bei den Filmfestspielen in Cannes beschworen, drei Generationen nebeneinander: Jean-Pierre Leaud, Truffauts alter ego als heranwachsender Antoine Doinel, François Truffaut selber und dessen Mentor Jean Cocteau … Und enden ließ Godard sein Vorwort in der Manier von Borges, indem er schrieb …
»François est peut-être mort. Je suis peut-être vivant. Il n’y a pas de différence, n’est-ce pas.«
Hans Köberlin fiel plötzlich ohne besonderen Grund ein, daß er sich vorgenommen hatte, eine Bibliographie der mitgenommenen Bücher anzulegen.


* Geboren wurde an diesem Tag im Jahre 1929 Liselotte Pulver, von deren Filmen Hans Köberlin bloß Piroschka (1955), die Adaptionen von Manns Felix Krull (1957) und – an der Seite des späteren Kommissar Haferkamp, Hansjörg Felmy – der Buddenbrooks (1959), wegen Wolfgang Neuss Das Wirtshaus im Spessart (1958) und natürlich – das einzige Meisterwerk in dieser Aufzählung – Billy Wilders One, Two, Three (1961) erinnerte.
** François Truffaut, Briefe 1945-1984, zusammengestellt von Gilles Jacob und Claude de Givray, Köln 1990, S. 7f. Bei Godards »peut-être«, das sich auf Truffauts Tod bezog, handelte es sich, wie ein Faksimile dieser Zeilen im Buch zeigte, um eine Einfügung … wir würden gerne wissen, wann Godard sie gemacht hatte …

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel IV [Transfer complete], 10. bis 12. Oktober 2013).