Montag, 5. Oktober 2015

What better technique than to leave
no traces?

(John Cage, 45’ – Music for a Speaker; in: Silence. Lectures and writings by John Cage, Hanover / New England 1961, S. 159).

Ein Wunsch

Ein Major außer Dienst – ich könnte mir nichts Besseres vorstellen. Zu schade, daß man nicht für alle Zeit schlicht Major außer Dienst hat sein können!

(Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich 2003, S.243).

… nicht technischer Natur.

Ein Maler um 1300 hätte vom technischen Standpunkt her auch ohne weiteres einen Kandinsky anfertigen können; das Hemmnis, welches bewirkt, daß er es dennoch auf keinen Fall getan hätte, war nicht technischer Natur.

(Burkhard Müller, Dein gemartertes Antlitz. Pilgerfahrt zum heiligen Grabtuch in Turin; in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, hrsg. v. Christian Demand, Heft 797, 69. Jahrgang, Stuttgart Oktober 2015, S. 11).

Samstag, der 5. Oktober 2013


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Fußwege waren wichtige Elemente im Leben des – wie erwähnt automobillosen weil fahrerlaubnislosen – Fußgängers Hans Köberlin.* Er mochte es, wenn er unter diversen Wegvarianten die Auswahl hatte, um von nach da nach dort zu kommen, und er mochte es, wenn seine Wege Rundwege und nicht Hin- und Rückwege waren. Das Thema ›Wege‹ war ihm, wir erwähnten es, glaube ich, auch eng mit dem Thema ›Gewohnheiten‹ verknüpft. Eine Gewohnheit nahm ihren Anfang, wenn man dreimal den gleichen Gang machte, beim zweiten Mal war es erst eine Wiederholung. Es gab viele Gewohnheitsgänge in Hans Köberlins Exil, wie die geneigten Leserinnen und Leser noch feststellen werden, es gab aber auch einige bewußt wiederholte Gänge, denn wie schon Mr Bloom wußte: »Beauty of music you must hear twice.«, bewußt wiederholt, das hieß: nur zweimal gemachte Gänge, weil sie zu aufwendig waren, um zur Gewohnheit zu werden. Hans Köberlin machte diese Gänge bewußt zum zweiten Mal, auch wenn er sie eigentlich nicht nochmals gegangen wäre; der erste Gang war die Erkundung, und der zweite Gang war der der Reflektion über das bereits Erkundete. Die bewußte Wiederholung des Neuen empfahl sich eigentlich für alles, was genossen werden wollte, nicht nur für Gänge und die Schönheit der Musik.
»Ja, wenn es keine Wiederholung gäbe, was wäre dann das Leben?«**
Hans Köberlin ging zweimal …
  • durch das Labyrinth der Urbanización, in der er lebte, und er ging zweimal
  • einen bestimmten Gang durch das Hinterland und er ging zweimal
  • auf den Peñón de Ifach und er ging zweimal
  • um die Sierra de Oltà.
Es gab noch einige Gänge, die er gerne wiederholt hätte, aber dazu sollte es nicht kommen.
Es waren – und da unterschied er sich grundsätzlich von der Frau, ja von allen Frauen, mit denen er in seinem bisherigen Dasein Wege beschritten – nicht die spektakulären Wege, die sich ihm einprägten, und es waren bei den Wanderungen nicht die – in der Tat spektakulären*** – Aussichten, sondern es war das Gehen durch die nur teilweise permanent bewohnten und ergo in diversen Modi der Verlassenheit vorgefundenen Siedlungen und die mit Bauschutt und Müll versehenen Brachflächen, vorbei an den grob zusammengezimmerten Schuppen der Einheimischen zum Beispiel, oder – wie in ein paar Monaten – das Gehen an den Ruinen der Sanitäranlagen und der Bar eines stillgelegten Campingplatzes vorbei; und es waren von den Tagen nicht die Tage der Wanderungen, sondern die der Spaziergänge durch nichtssagende Straßen und Gassen, die Hans Köberlin als exponierte, die Dauer seines Aufenthalts hier mitstrukturierende Erinnerungen im Gedächtnis behielt. Denn er wollte: »Erinnerung, zusammengesetzt zu etwas Komplexerem als es das sein konnte, was er mit seinen Augen sehen konnte«, wie Heißenbüttel in seiner bereits zitierten Collage zitierte, »Erinnerung jedoch unauflösbar vermischt mit Erwartung. Denn wenn sich hier das Panorama der Einfahrt schlechthin öffnete« – Heißenbüttel meinte die seinem Protagonisten (und auch Hans Köberlin) vertraute Einfahrt in einem Zug in die Hansestadt –, »so bedeutete es, daß sich nicht unterscheiden ließ zwischen Erinnerung und Erwartung. Ankommen. Schichten aus Ankommen, überlagert von neuem Ankommen.« Und weiter: »In der Mischung aus Erinnerung und Erwartung wurde bestätigt, daß das Definitive noch einmal widerrufbar war. Widerrufbar in der Erreichbarkeit unendlich gerichteter Erwartung.«**** Man könnte auch sagen, sagte sich Hans Köberlin, als er das bei Heißenbüttel las und an sein Gehen und das Erinnern an die Gänge und an seine bewußte Anlage der Gänge dachte, daß dies der Modus war, in der die Melancholiker auf die Welt zugriffen beziehungsweise zugingen –: man sprach ja zurecht von ›Weltzugang‹. »The only thing«, wußte auch Mr Bloom, »is to walk then you’ll feel a different man.« Oder aber, wie wir verlesen hatten: die Manipulation des Raums in eine Tatsache …
Das Denken im Modus des Gehens – Godard hatte einmal schön formuliert, den Gang durch das Gehen zu beweisen***** – war besonders fruchtbar, und Hans Köberlin pflegte stets den kleineren seiner beiden Laptops (den mit der klemmenden I-Taste) oder zumindest Notizbuch und Kugelschreiber mit sich zu führen. Unmittelbar nach der Lysakatastrophe hatte das Denken im Modus des Gehens jedoch auch eine fatale Zirkularität bekommen, und er hatte seine sonst so geliebten ziellosen Gänge reduziert oder zuvor eine halbe Flasche Rotwein getrunken, um seine Verzweiflung in eine Melancholie abzumildern, denn, wie Thomas Pynchon in seiner unnachahmlichen Art artikuliert hatte …
»The past, hey no shit, it’s an open invitation to wine abuse.«******
Im Zuge seiner Regeneration – oder dem, was jetzt anstelle des aufgeschobenen oder ›als-ob‹-Untergangs mit ihm passierte – besserte sich aber auch dies, und nun freute er sich schon auf das ziellose Erkunden der Gegend, »die Frivolität des unbeschränkten und nicht zufällig so genannten Sich-gehen-lassens«, wie Hans Blumenberg einmal geschrieben hatte.


* »Es sind Situationen und keine Indizien (…), die Identifikation zum möglichen und narzißtischen Glück machen.« – Dies hatte Hans Köberlin am Freitag, dem 16. Februar 2007, als ein Zitat von dem mittlerweile auch schon verstorbenen Friedrich Kittler in seinem Arbeitsjournal exzerpiert, leider ohne die Quelle anzugeben, wir vermuten aber, daß es Aufschreibsysteme 1800 / 1900 war.
** Sören Kierkegaard, Die Wiederholung / Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin, Reinbek 1961, S. 8.
*** Wir reden jetzt nicht über seine Wanderungen überhaupt, sondern bloß über die der letzten Monate und die kommenden im Mediterranen, also die drei auf der Insel des zweiten Gesichts vor ein paar Wochen mit der Frau und die jetzt hier an der weißen Küste. – Während der noch glücklichen Lysazeit hatte er begonnen, mit seinem späteren Landlord und dessen Frau in Etappen zu Fuß die Hauptstadt zu umrunden. Das Spektakuläre dort im Osten – die Hauptstadt war die einzige Stadt in der Welt, aus der man in allen vier Himmelsrichtungen in eine östliche Peripherie kam – war das Unspektakuläre.
**** Helmut Heißenbüttel, Projekt Nr. 1: D’Alemberts Ende, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1981, S. 15f. »Ich machte damit etwas, bloß dadurch, daß ich in der Gegend Tag und Nacht anwesend war. Ich suchte da Umwege noch und noch, betrachtete, unterschied, verglich …« (Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten, Frankfurt am Main 2007, S. 180).
***** Vgl. Jean-Luc Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, Frankfurt am Main 1984, S. 110. Wahrscheinlich dachte Godard dabei an Diogenes, der bekanntlich die Eleaten, die die Bewegung leugneten, einfach dadurch zu widerlegen versuchte, daß er wortlos auf und ab ging.
****** Thomas Pynchon, Bleeding Edge, New York 2013, S. 20. – »Als der Ober bei meinem Fortgehen bemerkte, daß ich die Weinflasche nur halb geleert hatte, drehte er sich nach mir um und sagte: ›Bis bald, Herr Soares, und gute Besserung!‹« (Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, hrsg. von Richard Zenith, Zürich, 2003, S. 32).

(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel III [Ankunft], 5. bis 9. Oktober 2013).