Freitag, 28. August 2015

Melancholie (20. Februar 2014, 19Uhr02)


(aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel XII [Phase V – oder: Un gringo en Calpe], 10. Februar bis 6. März 2014).

Reisen

Dazu (zu Telos, Kapitel XVIII [Reisen]) eine fragmentarische Notiz von Clemens Limbularius, die einzubauen Hans Köberlin übersehen hatte, eine Notiz datiert vom Mittwoch, dem 24. Januar 2007: »Es gibt einen guten (buddhistischen) Alltag und einen schlechten (protestantischen) Alltag und das Reisen dient dazu, dem guten Alltag den Rücken zu stärken, die eigenen bewußten Rituale, die den Alltag heiligen, gegen die fremdbestimmten gehetzten Gewohnheiten, die alles ins Profane ziehen.« Reisen sei eine Halluzination, hatte der Protagonist von Flann O’Briens The Third Policeman de Selby zitiert (vgl. Der dritte Polizist, Frankfurt am Main 1991, S. 66). So abstrus die referierten Theorien de Selbys auch sonst waren, hier gab ihm Hans Köberlin recht, aber wahrscheinlich nicht in dem Sinne de Selbys. Reisen war Hans Köberlin eine Halluzination, weil er sich durch das Reisen – = weg sein – in künftigen Sehnsuchtsorten bewegte, die mit dem empirischen Dortsein bloß die Entfernung von dem Zuhause gemein hatten. Und was sich Hans Köberlin mit seinen Reisehalluzinationen schaffte, das waren quasi Mikroalltage in der Fremde, und zwar Mikroalltage, die sich in jeder noch so divergierenden Fremde wiederholten. »Dahin kommen, dies ohne das Reisen zu können …« Aber da stand die gute alte Mutter Dialektik vor, und außerdem war es nicht verkehrt, ab und an einmal rauszukommen.

(eine Fußnote aus: ¡Hans Koberlin vive!, Kapitel V [Phase I – oder: Altlasten], 13. Oktober bis 2. November 2013).

Warum man »die verzweifelte Traurigkeit der Dichter« ertragen kann

All dem, was in der Welt geschieht, und all den skeptischen Behauptungen der ›Realisten‹ zum Trotz darf der geistige Mensch niemals die Wiedereinrichtung des Paradieses auf Erden aus den Augen verlieren, und er darf auch nie aufhören, darin die einzige und wahre Bestimmung der Menschheit zu sehen. Die Kunst uist das Bild, die Stimme, der Gedanke dieser Idee – und das, wenigstens das, darf und kann niemand leugnen.

(Alberto Savinio, Mein privates Lexikon, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Richard Schroetter, Frankfurt am Main 2005, Stichwort Theater, S. 395).

André Breton hat bekanntlich den Surrealismus erfunden, um dem Zwang, durch Arbeit seinen Lebensunterhalt bestreiten zu müssen, zu entgehen; und der junge Faulkner hat das Schreiben als Mittel gesehen, nicht arbeiten zu müssen (vgl. seinen Brief an den Redakteur des Forum Anfang 1930 in: William Faulkner, Briefe; in: Werkausgabe in 29 Bänden, Zürich 1982, Bd. 28, S. 58.), vgl. auch Karl Marx’ vielzitiertes Diktum: »Das Reich der Freiheit (hier war der Begriff ›Freiheit‹ einmal angemessen, fand Clemens) beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion«, ein Diktum mit dem Wehrmutstropfen freilich, daß »das wahre Reich der Freiheit (…) aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.« (Karl Marx / Friedrich Engels, Werke (MEW), hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1956ff., Bd. 25, S. 828). Der nicht mehr junge Clemens wollte allerdings, das war seine Utopie (und hier würden die Marxisten sicher das Urteil »falsches Bewußtsein!« über ihn fällen), in der Manier von Mt 6.28 und Lk 12.27 und in der Manier des Oblomow, essen ohne dafür arbeiten zu müssen, Oblomowerei, ein Leben in einer bestimmten Art von (feminin angereichertem!) Schlaraffenland (in dem er sich jedoch nicht in der Ausprägung des prolligen »All you can eat!« überfressen würde; daß keine Not mehr sein würde implizierte nicht die Maßlosigkeit). Valéry sah das übrigens ähnlich und mit seinen Intentionen radikaler, wenn er in seinen Cahiers notierte, die Würde des Menschen liege ganz und gar in jenen Augenblicken begründet, in denen er für die Gegenstände der Reflexion ohne praktischen Nutzen und sogar ohne Reiz und ohne Zukunft ebensoviel Aufmerksamkeit und Hingabe abringe, wie er seiner Existenz zukommen lasse … – Bei dem Thema könnte man ein ganzes Faß aufmachen, wir werden sicherlich zu verschiede-nen Anlässen darauf zurückkommen.

(aus: Telos, Berlin 2013, S. 31 und dort der zweite Abschnitt der Fußnote 99).