Dienstag, 10. März 2015

Bitches Brew

Clemens war, was das Erleben von Musik anging, ein Autodidakt (eine Formel Arno Schmidts dafür: Affe plus Genius durch drei), seine Urteilskraft ist nie systematisch gebildet worden, weder von den dafür Verantwortlichen in Sozialisation und Erziehung (was auch an Clemens’ Mißtrauen gegenüber den dafür Verantwortlichen lag), noch später von ihm selbst (was auch an der Clemens eigenen Schludrigkeit lag). So führten Zufälle ihn an Musik heran, wie zum Beispiel ein Film Godards an die Quartette Beethovens (bei deren Hören er wiederum stets an Maruschka Detmers’ Brüste denken mußte) oder die Laune eines Augenblicks (vielleicht wegen des Covers), die ihn mit siebzehn zu dem Kauf einer Doppellangspielplatte eines ihm bis dato unbekannten Trompeters (mit siebzehn! man muß sich das einmal vorstellen!) bewogen hatte, nämlich zu Miles Davis’ Bitches Brew. Über Bitches Brew hatte ihm sein Instinkt bereits bei dem ersten erstaunten Hören gesagt, daß er da etwas erstanden hatte, das ihn sein ganzes Leben lang begleiten würde. Ihm drängte sich, wenn er sich dieser Musik aussetzte, immer das Bild eines Raumes mit viel mehr als den drei üblichen Dimensionen auf (Miles Davis hatte die Rhythmusgruppen in der sogenannten elektrischen Phase ja auch mehrfach besetzt), eines Raumes, den die Musiker unablässig erschufen und in den Miles Davis dann seine Akzente mit der Trompete setzte, Punkte oder Linien oder Vektoren oder … (Clemens hatte das meiste über Geometrie Erlernte vergessen und wir können ihm da auch nicht weiterhelfen). Es gab kein Hören, bei dem man nicht neue filigrane Nuancen in diesen Klangräumen (ein abgenutztes Wort, ich weiß) hörte, ein ständiges Flirren und Schwirren und dabei gleichzeitig wie ein fester Block da seiend, eine dichte Klangstruktur mit geradezu beängstigender Gewalt, wie Davis’ Biograph Ian Carr es beschrieben hatte. Mit dieser Raummetapher lag der musikalische Laie Clemens noch nicht einmal so arg daneben, auch Davis’ Freund Quincy Troupe bemerkte, es gäbe tiefe, geheimnisvolle Räume in der Musik, die etwas zwingend Mysteriöses und Magisches unter ihrer Oberfläche habe, und auch Miles Davis selber hatte von Räumen gesprochen, Thelonious Monk etwa könne ihm, Davis, nach seiner Ansicht keinen Raum schaffen, wohl aber dem Saxophonspiel John Coltranes. Und um noch einmal auf Carr zu kommen, zu der vielleicht treffendsten Charakteristik: Carr hatte gemeint, es sei gewissermaßen eine Musik, in der man eher wohnen solle, anstatt sie einfach nur anzuhören.

(aus: … du rissest dich denn ein., Berlin 2010, S. 25ff.).